Kinderschutz

Sexueller Missbrauch: Expertinnen und Experten fordern Verbesserungen im Gesundheitswesen für Betroffene

Betroffene von sexueller Gewalt müssen schneller und einfacher Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Therapieplätzen erhalten. Das fordern Expertinnen und Experten sowie Betroffene beim „Dialog Kindesmissbrauch“, der am 18. Oktober 2012 in Berlin gestartet ist.

22.10.2012

In vier öffentlichen Hearings der Veranstaltungsreihe "Dialog Kindesmissbrauch" wird Betroffenen, Politik und der Fachwelt eine Plattform geboten, Verbesserungen und Fort- und Weiterentwicklungen im Bereich Gesundheit, Beratung, Aufarbeitung und Strafrecht vertiefend zu erörtern. Aus Sicht von Fachwelt und Betroffenen bedürfen diese Schwerpunktthemen auch nach Ende des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch" dringend eines weiteren fachlichen Diskurses. Den Auftakt der Dialogreihe bildet das Hearing "Gesundheit von Betroffenen – Bessere Versorgung und Behandlung" vom vergangenen Donnerstag.

12.000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik jährlich. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Einer repräsentativen Umfrage zufolge hat mehr als jede bzw. jeder Zehnte (12,5 Prozent) in seiner Kindheit oder Jugend sexuellen Missbrauch erlebt. "Noch immer fehlt es in Deutschland an adäquaten Hilfsangeboten für Betroffene – sowohl für Mädchen und Jungen als auch für Erwachsene", sagte Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, beim Start der Veranstaltungsreihe. Die Wartezeiten für Therapien seien laut Bundespsychotherapeutenkammer zu lang, insbesondere in ländlichen Regionen fehle es an Hilfsangeboten. Bei Kindern und Jugendlichen vergingen oft Jahre, bis sie eine geeignete Therapie bekämen.

Fachwelt und Betroffene forderten deshalb, dass sexueller Missbrauch im deutschen Gesundheitswesen ernst genommen werden müsse. Beispielsweise fehlten bundesweit Hilfsangebote und Opferambulanzen, damit Betroffene schnelle und spezialisierte Hilfen erhalten.

Um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten, müssten sich zudem qualifizierte Therapeutinnen und Therapeuten in Krankenhäusern, Beratungsstellen sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen an der ambulanten medizinischen Versorgung beteiligen können. Voraussetzung sei insofern eine Ermächtigung durch die gesetzlichen Krankenkassen. Außerdem bedürfe es zusätzlicher Zulassungen für Ärztinnen und Ärzte sowie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, um vorhandene Engpässe zu beheben.

"Es reicht nicht aus, dass in manchen Regionen theoretisch ausreichend viele Therapeutinnen und Therapeuten niedergelassen sind, wenn in der Praxis die Angebote fehlen", betonte Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm. Auch die Situation der heute betroffenen Kinder und Jugendlichen müsse nachhaltig verbessert werden. Im deutschen Gesundheitswesen müsse es für Diagnostik, Dokumentation und Erstbehandlung bei sexuellem Missbrauch dringend fachlich fundierte, interdisziplinär abgestimmte Leitlinien geben. Hierfür bedürfe es gesetzlicher und untergesetzlicher Änderungen.

Anlässlich des Hearings wurde ein Forderungskatalog zur Gesundheit vorgelegt, der auch im Parlamentarischen Abend mit Mitgliedern des Bundestages diskutiert wurde.

Eckpunkte des Forderungskatalogs vom 18. Oktober 2012:

  1. Betroffene, die Hilfe benötigen, müssen schnellst möglich Zugänge zur medizinischen Versorgung und zu Therapien erhalten.
  2. Betroffene brauchen Lotsen durch den Therapie- und Hilfedschungel.
  3. Ambulante und stationäre Gesundheitsleistungen in Diagnostik und Krankenbehandlung von
    Betroffenen müssen im deutschen Gesundheitswesen abrechenbar sein.
  4. Kindesmissbrauch muss im Gesundheitswesen erkannt, diagnostiziert und dokumentiert werden
    können.
  5. Der Schutz der Betroffenen muss an oberster Stelle stehen, vor Regressansprüchen von
    Krankenkassen.
  6. Es werden klare Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung bei Kindern und Jugendlichen und
    von erwachsenen Betroffenen benötigt.
  7. Kein Raum für Missbrauch: Krankenhäuser und Praxen müssen Schutzräume sein.

Veranstaltungsreihe "Dialog Kindesmissbrauch"

In den Hearings werden Positionen und Standpunkte zu den Themen Gesundheit, Beratung, Aufarbeitung und Strafrecht von Expertinnen und Experten und Betroffenen diskutiert, Perspektiven entwickelt und konkrete Veränderungs- und Verbesserungsvorschläge und Maßnahmen in Form von Forderungskatalogen an die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen adressiert. Initiiert wird die Dialogreihe vom Unabhängigen Beauftragten, Johannes-Wilhelm Rörig, und dem beim ihm angesiedelten Fachbeirat, umgesetzt durch Konzeptgruppen, bestehend aus Mitgliedern des Fachbeirats und weiteren Betroffenen. Die Hearings sind öffentlich. Der Eintritt ist frei.

Weitere Hearings:

  • 20. November 2012: „Kinder und Jugendliche – Beratung fördern, Rechte stärken“
  • April/Mai 2013: „Aufarbeitung – systematisch, umfassend, unabhängig (Arbeitstitel)
  • Mai/Juni 2013: „Strafrecht – Verjährungsfristen, Straftatbestände“ (Arbeitstitel)

Weitere Informationen gibt es unter www.beauftragter-missbrauch.de.

Quelle: Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vom 18.10.2012

Redaktion: Astrid Bache

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