Studie

Sexueller Kindesmissbrauch in der Familie – eine große Herausforderung

Familie genießt als privater Raum einen besonderen gesetzlichen Schutz. Für Kinder und Jugendliche, die darin sexuelle Gewalt erleben, kann dieser Schutz zum Verhängnis werden. Ergebnisse einer neuen Studie zeigen neben dem Spezifischen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie auch die Verantwortung unserer Gesellschaft für Hilfe und Aufarbeitung in diesem Tatkontext auf.

08.09.2021

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat eine Studie zu sexueller Gewalt in der Familie veröffentlicht. Sie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes von Wissenschaftlerinnen der Goethe-Universität Frankfurt am Main zur gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses Tatkontextes. Grundlage der Studie waren vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte von Betroffenen, Angehörigen sowie weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission aus dem Kontext Familie vorlagen. Für die Studie wurden insgesamt 870 vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte mit quantitativen und qualitativen Methoden ausgewertet.

Ein zentrales Merkmal von Familie als Tatkontext ist die Möglichkeit der Täter oder Täterinnen sowie anderer Beteiligter, sich nach außen abzuschotten, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten und so einem betroffenen Kind alle Auswege aus der Gewalt zu versperren. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Tatkontexten ist, dass Kinder ihre Familie meist nicht einfach verlassen können wie zum Beispiel eine Schule oder einen Sportverein. Kinder bleiben der sexuellen Gewalt in der Familie somit oft über einen langen Zeitraum ausgeliefert.

Prof. Dr. Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission und Autorin der Studie:
„Das Grundgesetz weist Eltern das Recht und die Pflicht der Erziehung zu. Nur im Falle ihres Versagens kommt das Wächteramt des Staates zum Tragen. Doch bevor es zu Eingriffen von außen in die Familie kommt, müssen Kinder und Jugendliche in vielen Fällen lange leiden. Menschen im Umfeld von Familien scheuen sich allzu oft davor zu intervenieren und denken, es gehe sie nichts an, was hinter der Haustür einer Familie vor sich geht. Auch bei Fachkräften des Jugendamtes, so berichten Betroffene der Kommission, war diese Scheu vorhanden. Doch nicht zu intervenieren und Signale von Kindern zu übersehen, hat zu oft dazu geführt, dass Hilfe ausgeblieben ist. Wir brauchen Antworten auf die Frage, wie der Schutz von Kindern und Jugendlichen gelingen kann, ohne das Recht auf Privatsphäre von Familien zu ignorieren. Sexueller Kindesmissbrauch ist keine Privatangelegenheit.“

Überwiegend männliche Täterschaft und kaum Auswege

Unter den damaligen Kindern und Jugendlichen waren alle Altersgruppen betroffen. Bei fast der Hälfte der Betroffenen begann der Missbrauch bereits vor dem sechsten Lebensjahr. Das heißt, in Familien sind gerade die jüngsten Kinder besonders betroffen. Es zeigt sich folgendes Muster: Wenn die Gewalt im jungen Alter begann, dauerte sie oft viele Jahre an.

Mit Abstand am häufigsten wurde von Tätern und Täterinnen unter den Eltern berichtet (44 %). Die insgesamt größte Tätergruppe waren Väter mit 36 %. Mütter sind mit rund 8 % als Täterinnen dokumentiert. Zieht man Pflege- und Stiefeltern hinzu, machten Väter fast die Hälfte (48 %) und Mütter 10 % der Tätergruppe aus. Außerdem wurden als Täter und Täterinnen Groß- und Stiefonkel, Brüder, Großväter, andere männliche Verwandte, Stiefgroßväter, Stiefbrüder und Tanten genannt. Viele Betroffene erlebten Gewalt durch mehr als einen Täter oder eine Täterin innerhalb oder außerhalb der Familie. Teilweise wussten diese voneinander, sprachen sich ab oder planten und organisierten die sexualisierte Gewalt zusammen.

Unter den Personen, denen sich Kinder und Jugendliche anvertraut haben, waren vielfach Familienangehörige, insbesondere Mütter. Doch nur in wenigen Fällen wurde die Gewalt durch Dritte beendet. Meist endete die Gewalt ohne ersichtlichen Grund. Kinder und Jugendliche haben zudem immer wieder versucht, der sexuellen Gewalt zu entkommen. Sie schildern verschiedene „Strategien“, die die Abhängigkeit, das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen besonders drastisch aufzeigen. Manche Betroffene erzählen von ihren Suizidgedanken, viele sind von zu Hause weggelaufen.

Marie Demant, Erziehungswissenschaftlerin und Autorin der Studie:
„Die dokumentierten Berichte betroffener Menschen offenbaren, dass es über Jahrzehnte hinweg zahlreiche vergleichbare Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs in Familien in Deutschland gegeben hat. Dafür fehlt bisher ein öffentliches Bewusstsein. Die gesellschaftliche Vorstellung, es handle sich bei sexueller Gewalt in Familien um individuelle Einzelschicksale, kann somit widerlegt werden.“

Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenrates beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM):
„Wir als Betroffenenrat beim UBSKM sind für diese umfassende Analyse der Studie sehr dankbar. Besonders wichtig ist die Klarstellung, wie bedeutsam der Tatkontext Familie auch für die Aufarbeitung ist. Betroffene können keine Institution in die Pflicht nehmen. Oft stellen nur wir als direkt Betroffene uns der Aufarbeitung und stoßen diese an, während sich die restliche Familie verweigert. Nicht die Täter*innen werden als Problem wahrgenommen, sondern die betroffene Person wird zum „Problem“ für die Familie erklärt. Für uns ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens auch in Familien zu überwinden und ein Ethos der Einmischung zu entwickeln. Wir Betroffene haben das Recht auf Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme.“

Besondere Herausforderungen bleiben

Die Aufklärung von Fällen und Aufarbeitung des Tatkontextes Familie steht vor besonderen Herausforderungen. Betroffene Kinder und Jugendliche sind hier auf ein aufmerksames und handelndes Umfeld angewiesen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass das hohe Gut der Privatsphäre nicht dazu führt, dass sie selbst schutzlos sind.

Die Analyse der Betroffenenberichte zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche Signale gesendet und versucht haben, sich jemandem anzuvertrauen. Vertrauenspersonen in der Familie wie zum Beispiel Mütter benötigen ihrerseits gute Unterstützung und Beratung, um ihr Kind schützen zu können. Und Vertrauenspersonen außerhalb der Familie in der Schule oder einem Verein müssen wissen, wie sie helfen können.

Die Studie verdeutlicht, welche weiteren Aufarbeitungsschritte nötig sind. So ist auf der Basis von Betroffenenberichten zu klären, wie Jugendämter agiert haben und ob und wie Hilfe wirkungsvoll war. Hierzu hat die Kommission jüngst eine Fallstudie in Auftrag gegeben.

Betroffene fordern, dass neben der gesellschaftlichen Aufarbeitung auch in der einzelnen Familie selbst aufgearbeitet werden muss. Auch hierfür benötigen Familien fachliche Beratung und Unterstützung. Diese ist für Angehörige bisher kaum verfügbar.

Hintergrund der Studie

Die Studie „Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart“ ist das Ergebnis eines intensiven fünfjährigen Forschungsprojektes und begleitend entstanden zur Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Der Studie liegt die Auswertung von Anhörungen und schriftlichen Berichten der Kommission zugrunde. Finanziert wurde die Studie aus Forschungsmitteln der Kommission. Das Forschungsprojekt wurde von Wissenschaftlerinnen der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt: Prof. Dr. Sabine Andresen, Marie Demant, Anna Galliker und Luzia Rott.

Quelle: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vom 07.09.2021

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