Kinderschutz

Interview: "Schützt die Kinder vor Prügel-Eltern!"

Jeden Tag werden in Deutschland mehr als 500 Kinder misshandelt, fast täglich stirbt ein Kind durch körperliche Gewalt. Warum unser Kinderschutzsystem versagt und was passieren muss, darüber spricht in "stadtgottes", dem Magazin der Steyler Missionare, Rechtsmediziner Prof. Michael Tsokos.

02.04.2015

Es geht nicht um einen Klaps auf den Po: Etwa 1,5 Millionen Kinder, so vorsichtige Schätzungen, werden jedes Jahr in ihrer Familie so schwer misshandelt, dass es körperliche Folgen hat – von den seelischen ganz abgesehen.

stadtgottes: Im vergangenen Jahr wurden 200 000 Kinder von ihren Eltern so schwer misshandelt, dass die Vorfälle aktenkundig wurden. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Fast jeden Tag wird in Deutschland ein Kind durch körperliche Gewalt getötet. Und das, obwohl juristisch seit dem Jahr 2000 schon eine Ohrfeige ein Straftatbestand ist und der Staat jährlich 7,5 Milliarden Euro für den Jugendschutz ausgibt. Wie ist das zu erklären?

Prof. Michael Tsokos: Unser „Kinderschutzsystem“, und das möchte ich in An- und Abführung setzen, ist nicht mehr zeitgemäß. Bei diesen Zahlen muss man die aktuellen Konzepte infrage stellen. Die Familienpolitik muss sich endlich dieses Themas annehmen. Wenn ein Fall bekannt wird, gibt’s hektischen politischen Aktionismus, aber es passiert nichts. Was derzeit abläuft, ist reine Flickschusterei. Unser System schützt eher die Eltern als die Kinder. Das Riesenproblem ist: Kinder sind keine Wähler! Die Eltern sind die Wähler. Und die Politiker sind Opportunisten. Wenn sie den Eltern Auflagen machen und zum Beispiel das Kindergeld nur dann in voller Höhe auszahlen, wenn sie regelmäßig zum Kinderarzt gehen, werden sie Wähler verlieren.

Nun gibt der Staat ja sehr viel Geld für Vorbeugung aus ...

Nein! Eben nicht! Unser Kinderschutzsystem ist rein reaktiv ausgerichtet.

Aber es gibt doch begleitende Fürsorge für werdende Eltern; in manchen Städten werden Mütter, die in schwierigen Situationen leben, von Familienhebammen auch nach der Geburt betreut.

Können! Sie können betreut werden! Das ist nicht verpflichtend. Der präventive Ansatz – genau das, was Sie gesagt haben – ist der Schlüssel. Das kommt viel zu kurz.

Warum machen solche Taten selten Schlagzeilen?

Seit unserem Buch stellen wir fest, dass das Thema mehr und mehr in die Öffentlichkeit kommt. Leider ist es noch nicht bei den Politikern angekommen. Es hat sich nichts verändert. Die Zahlen sind seit 20 Jahren dieselben.

Ist Kindesmisshandlung ein Unterschichten-Phänomen? Dann wäre die Angst der Politiker, wie Sie sagen, durch rigide Maßnahmen Wähler zu verlieren, doch überflüssig. Denn diese Schichten gehen nicht zur Wahl.

Kindesmisshandlung, und das sagen alle kriminologischen Studien, ist ein Phänomen, das sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht, allerdings mit unterschiedlicher Qualität. Im Akademikerhaushalt werden die Kinder aufs Gesäß oder auf den Rücken geschlagen; jedenfalls so, dass man es nicht auf den ersten Blick sieht. Im Hartz-IV-Haushalt wird nicht so geplant und gezielt gehandelt, da gibt’s Schläge ins Gesicht und ein blaues Auge. Die Quantität der Prügel ist dieselbe. Da gibt’s keinen Unterschied.

Schütteln, verbrühen, verdrehen der Arme – sind misshandelnde Eltern brutale Sadisten?

Es gibt alle Graduierungen. Etwa den typischen Fall des Schütteltraumas bei Kindern unter einem Jahr. Das ist in der Regel ein Schreikind, die Eltern sind überfordert, können nicht mehr. Dann wird das Kind geschüttelt, wobei es zu Gehirnverletzungen kommt. Dann gibt’s natürlich auch niedere Beweggründe: Ein Vater will einfach nicht an seiner Playstation gestört werden. Es kann aber auch der Vater sein, der seinen Job verloren und vier Nächte nicht geschlafen hat. Und dann gibt es tatsächlich auch den brutalen Sadisten, der einfach seine Macht über den Schwächeren auslebt. Typisch oft der archaische Grundgedanke des neuen Lebensgefährten der Frau: Die Kinder sind nicht von mir! Solche Dominanzzüge kennen wir auch aus dem Tierreich. Aber es sind nicht nur Männer, die schlagen. Das kann auch die Stiefmutter oder neue Lebensgefährtin sein, die misshandelt. Aber in der Regel haben wir es mit einer Täterpersönlichkeit zu tun, die genau weiß, dass sie sich strafbar macht, sich aber im geschlossenen Haushalt sicher fühlt.

Helfen schärfere Gesetze?

Nein. Wir brauchen eine Modifizierung des Bundeskinderschutzgesetzes von 2012. Das ist ein zahnloser Papiertiger. Da steht nichts drin, was es nicht auch schon vorher gab. Was Rechtsmediziner und viele Kinderärzte vermissen, ist eine ärztliche Reaktionspflicht. Die Pflicht des Arztes also, bei Verdacht auf Kindesmisshandlung zu reagieren. Aber nicht, und das ist mir wichtig, die gesetzliche Melde- und Anzeigepflicht, wie es sie in den USA oder in Österreich gibt. Da muss der Arzt innerhalb von 24 Stunden bei der Polizei Strafanzeige erstatten. Dann kommen wir nämlich in die verheerende Situation, dass Leute, die ihr Kind schwerst misshandelt haben, nicht zum Arzt gehen und deshalb noch mehr Kinder sterben. Ich bin dafür, dass ein Arzt gesetzlich verpflichtet wird, bei begründetem Verdacht auf Misshandlung das Kind in die nächste Kinderschutzgruppe, in die nächste Klinik zu überweisen, damit dort eine ausführliche Diagnostik erfolgt, um dann das Jugendamt zu verständigen. Ich habe in meiner Praxis so viele Fälle erlebt, wo genau diese Maßnahme Kinder gerettet hätte.

 

Zur Person:
Prof. Michael Tsokos, 48, leitet das Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité und gleichzeitig das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit. Tsokos ist außerdem ärztlicher Leiter der Gewaltschutzambulanz der Charité. Mit der Rechtsmedizinerin Saskia Etzold hat er das Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ (Verlag Droemer) herausgegeben und mit ihr kurze Handreichungen erarbeitet, die auch in Schaubildern erklären, wie und woran Kindesmisshandlungen zu erkennen sind.


Dieses Interview wurde mir freundlicher Genehmigung stadtgottes, Magazin der Steyler Missionare, entnommen.

Das Interview führte stadtgottes-Chefredakteur Albert Herchenbach.

Link zum Artikel:<link http: www.stadtgottes.de stago ausgaben themen das-gespraech-kinderschutz.php _blank external-link-new-window> www.stadtgottes.de/stago/ausgaben/2015/04/themen/Das-Gespraech-Kinderschutz.php

Back to Top