Flucht und Migration

Viele kranke Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin fordert von der Politik einen Stufenplan für Flüchtlingskinder. Eine Untersuchung in einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung zeige "erschreckende Befunde".

17.12.2015

Die Mehrzahl der syrischen Flüchtlingskinder ist in besorgniserregendem Maß massiv körperlich und psychisch belastet. Mehr als ein Drittel der syrischen Flüchtlingskinder in Deutschland leidet unter einer psychischen Störung, die Mehrzahl hat eine körperliche Krankheit. Dies zeigt eine Untersuchung von Ärzten des Klinikums rechts der Isar (Prof. Peter Henningsen, Sigrid Aberl) und der Technischen Universität München (Prof. Volker Mall) in einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung.

63 Prozent der untersuchten Kinder und Jugendlichen hatten Karies, 25 Prozent Erkrankungen der Atemwege. Bei 42 Prozent fehlten Impfungen. Jedes zehnte Kind musste akut behandelt werden. Besonders gravierend ist es aber, dass 22 Prozent der syrischen Kinder unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, 16 Prozent unter einer Anpassungsstörung.

Eine PTBS kann bei Kindern Schlafstörungen, Alpträume und Entwicklungsrückschritte nach sich ziehen. Der hohen Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Belastungsstörungen, emotionalen Störungen wie auch körperlichen Erkrankungen wird man auf Dauer nur mit einem ausgeklügelten Stufenplan zur psychotherapeutischen Betreuung begegnen können, ist Mall überzeugt.

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) sieht ein hohes Risiko, dass viele der psychischen Gesundheitsprobleme zu einer langfristigen Beeinträchtigung der Kinder und Jugendlichen führen. Sowohl Kriegserfahrungen und Flucht gelten als erhebliche Risikofaktoren, wobei es auch auf deren Umstände ankommt, erläutert DGSPJ-Präsident Dr. Christian Fricke. Hier wiegt es besonders schwer, dass 60 Prozent der Untersuchten länger als 10 Monate auf der Flucht waren. Diese lange Dauer stellt einen Risikofaktor zur Entwicklung einer Belastungsstörung dar, so Mall.

Rund 59 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich im Erstaufnahmelager isoliert. Neben Gewalterfahrung und Diskriminierung erhöhen insbesondere ein unklarer Aufenthaltsstatus sowie die Trennung von Bezugspersonen das Risiko der Flüchtlingskinder, anhaltend psychosozialen Belastungen ausgesetzt zu sein.

Rasches Handeln sei daher nun unumgänglich, um zunächst einmal den elementaren Bedürfnisse von - insbesondere unbegleiteten minderjährigen - Flüchtlingskindern gerecht zu werden. Neben einem interkulturellen Training für Krankenschwestern, MFA und Ärzten müssen Kinder und Jugendliche durch Pädiater gründlich und frühzeitig untersucht und versorgt werden. Zudem müssen rasch präventive Maßnahmen greifen, um notwendige Impfungen zu veranlassen und Traumatisierungen frühzeitig zu erkennen.

3-Stufenplan gefordert

Im Namen der DGSPJ fordert Volker Mall aber darüber hinaus Politik und Entscheidungsträger dazu auf, einen Stufenplan zur besseren nachhaltigen psychotherapeutischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Flüchtlingshintergrund zu implementieren, der diese 3 Säulen beinhalten muss:

  1. Psychoedukative Maßnahmen für Flüchtlingsfamilien in den Erstaufnahmeeinrichtungen: Dabei müssen wöchentlich psychoedukative Maßnahmen in Kombination mit sozialrechtlicher Beratung in der Muttersprache oder mit Übersetzern angeboten werden. Diese Maßnahmen sollten Schutz- und Risikofaktoren, Symptome psychischer Störungen und mögliche Behandlungen einbeziehen. Hinzukommen müssen Informationen zum Bleibe-Recht, und zu Integrationshilfen in Deutschland.
  2. Angebote für stabilisierende therapeutische Kurzinterventionen belasteter Familien: Diese noch zu entwickelnde standardisierte Frühintervention soll sich an Elementen der Patientenschulung für chronisch kranke Kinder, den Prinzipien der Psychoedukation und Grundsätzen der Traumatherapie ausrichten. Das Ziel ist dabei eine schnell verfügbare und kurze Intervention (1-5 Einheiten) zur Stabilisierung und Sekundärprävention chronischer psychiatrischer Störungsbilder. Mittelfristig sollte dieses gut übertragbare Angebot für alle Flüchtlingskinder verfügbar sein.
  3. Integration von Kindern und Jugendlichen mit intensivem Behandlungsbedarf in traumaspezifische Einrichtungen: Dringend notwendig sind entsprechende kultursensible Therapieangebote für stark betroffene Kinder. Ein entsprechendes Online-Portal sowie regelmäßige Fort- und Weiterbildungsangebote sollen in Ballungszentren (z.B. München) von einer Institution mit spezifischer Behandlungskompetenz für Traumafolgestörungen organisiert, evaluiert und auf ländliche Regionen angepasst werden.

Um diesen Stufenplan aber umgehend umsetzen zu können, müssen Kinder jetzt ganz grundsätzlich in den Fokus der Flüchtlingspolitik rücken, fordert Sozialpädiatrie-Präsident Fricke. Nach diesen "erschreckenden Befunden" von Kindern aus einer Erstaufnahmeeinrichtung solle dies "das oberste politische Gebot der Stunde sein".

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 09.12.2015

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