Flucht und Migration

Deutsches Kinderhilfswerk: Deutschland braucht einen Masterplan für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingskindern

Das Deutsche Kinderhilfswerk mahnt in der Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland ein besonderes Augenmerk auf die Situation der Flüchtlingskinder an. Ein entsprechender Schwerpunkt fehlt in den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom Wochenende.

08.09.2015

Aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes sollte die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern spätestens beim Flüchtlingsgipfel am 24. September einen "10-Punkte-Masterplan" für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingskindern vorlegen.

"Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder. Für ihre Aufnahme und Integration gelten deshalb die einschlägigen Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Diese normieren eindeutig die Vorrangstellung des Kindeswohls bei allen Entscheidungen von Staat und Gesellschaft sowie das Recht der Kinder auf Förderung, Schutz und Beteiligung", betont Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.

"Die Aufnahme von Flüchtlingskindern ist eine humanitäre Verpflichtung unserer Gesellschaft. Wir sollten die jetzt zu uns kommenden Flüchtlingskinder als dauerhafte Einwanderer und ihren Zuzug als Gewinn für unsere Gesellschaft begreifen."

Aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes ist es notwendig, dass sich Bundesregierung und Bundesländer baldmöglichst auf folgende zehn Punkte zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingskindern verständigen und dementsprechende Maßnahmen auch finanziell absichern:

  • Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder
    Sie müssen Anspruch auf Leistungen der bestehenden Sozialsysteme haben wie andere Kinder in Deutschland auch. Nach Ansicht des Deutschen Kinderhilfswerkes widersprechen die Lebensbedingungen von Kindern, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, Artikel 27 der UN-Kinderrechtskonvention, wonach jedes Kind ein Recht auf einen seiner Entwicklung angemessenen Lebensstandard hat. Ebenso wird das in Artikel 26 festgelegte Recht auf soziale Sicherheit für Flüchtlingskinder nicht garantiert. Das gilt beispielsweise dann, wenn lediglich Sachleistungen gewährt werden, die eine kindgerechte Ernährung oft nicht möglich machen, wenn die medizinische Behandlung von Kindern auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände reduziert wird oder wenn psychosoziale Hilfen nicht gewährt werden, um seelische Traumata von Flüchtlingskindern zu behandeln.
  • Flüchtlingskinder brauchen einen vollständigen Zugang zu ärztlicher Versorgung
    Für Flüchtlingskinder ist mit Hilfe einer regulären Versicherungskarte Zugang zur ärztlichen Versorgung sicherzustellen. Das umfasst sowohl die Sicherstellung einer medizinischen Grundversorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen als auch den Zugang zur medizinischen Standardversorgung nach der Erstaufnahme. Insbesondere eine gute Aufklärung der Eltern über die Sinnhaftigkeit von Impfungen ist wichtig, da so der Schutz von Kindern vor krankheitsbedingten Schäden verbessert werden kann.
  • Die Inobhutnahmen von unbegleiteten Flüchtlingskindern sind mehr als bisher zu standardisieren und verbessern
    Kinder, die alleine nach Deutschland einreisen, brauchen sofortigen Schutz und kindgerechte Unterstützung. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen nicht dazu verpflichtet werden, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben. Eine Umverteilung in andere Bundesländer darf nur mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Flüchtlingskinder möglich sein.
  • Kinder gehören nicht in Gemeinschaftsunterkünfte
    Die Wohn- und Lebenssituation in Sammelunterkünften birgt für Kinder gesundheitsgefährdende Faktoren, die zu chronischen Krankheiten und psychischen Dauerschäden führen können. Insbesondere die Struktur und Organisation der Unterkünfte, die beengten Wohnverhältnisse, das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre, der Mangel an Anregung, die nachteiligen hygienischen Zustände und häufige Unruhe führen dazu, dass Kinder ihre elementaren Bedürfnisse nicht ausleben können und in ihrem Spiel- und Bewegungsdrang, ihrer Lernfähigkeit und in ihren Wahrnehmungs- und Erlebnismöglichkeiten eingeschränkt werden. Die Wohn- und Lebensbedingungen in Gemeinschaftsunterkünften fordern Kindern Anpassungsleistungen ab, die sie häufig überfordern und sie in ihrer psycho-sozialen Entwicklung stark gefährden.
  • Solange Kinder in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, müssen Mindeststandards gegen sexuelle Gewalt vorhanden sein
    In Gemeinschaftsunterkünften sind Flüchtlingskinder besonders gefährdet, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Deshalb braucht es Mindeststandards in den Flüchtlingsunterkünften zum Schutz dieser Kinder. Dadurch soll es potentiellen Täterinnen und Tätern erschwert oder bestenfalls unmöglich gemacht werden, sich den oft traumatisierten und psychisch instabilen Kindern zu nähern und durch den Aufbau von Vertrauen die Grundlage für Übergriffe zu schaffen. Schutzkonzepte müssen sowohl das Personal in den Gemeinschaftsunterkünften als auch Bewohnerinnen und Bewohner in den Blick nehmen, darüber hinaus aber auch Betreuende sowie Patinnen und Paten, die beispielsweise im schulischen Bereich unterstützen oder Freizeitaktivitäten anbieten.
  • Flüchtlingskinder, die noch nicht schulpflichtig sind, sollten die Möglichkeit zum Besuch einer Kindertageseinrichtung haben
    Nie wieder lernen Menschen so viel und mit so großem Spaß wie in den ersten Lebensjahren. Dabei kann eine gute Bildung schon für kleine Kinder die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft befördern und herkunftsbedingte sowie soziale Unterschiede am besten ausgleichen. Zur Integration von Flüchtlingskindern in den Kita-Alltag braucht es Erzieherinnen und Erzieher, die interkulturelle Kompetenzen und Diagnosefähigkeiten haben, um die Möglichkeiten und Fähigkeiten von Flüchtlingskindern zu erkennen und zu fördern. Darüber hinaus bietet ein Besuch einer Kindertageseinrichtung auch eine Abwechslung vom oftmals tristen und impulsarmen Alltag der Flüchtlingsheime.
  • Der Zugang zu Schulen und Ausbildungsstätten muss sichergestellt werden
    Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und Ausbildung – ganz gleich, wo es lebt und welchen Aufenthaltsstatus es hat. Dies wird am besten durch eine umfassende Schulpflicht sichergestellt. Schulen, Sprachlerneinrichtungen und Vorbereitungskurse müssen für Kinder aber auch tatsächlich zugänglich sein, sie müssen also örtlich erreichbar sein und die Ausstattung mit den dementsprechenden Ressourcen für Transportmittel und Lehrmittel muss erfolgen.
  • Asylverfahren sind zum Wohl des Kindes zu gestalten
    Die Vorbereitung auf ein Asylverfahren erfordert eine Beratung der Minderjährigen durch eine kultursensibel und geschlechterreflektiert qualifizierte Person ihres Vertrauens. Denn in der Praxis hat sich gezeigt, dass Minderjährige ihre Fluchtgründe oftmals erst nach intensiver Vorbereitung vortragen können.
  • Die Sicherung der Einheit von Familien mit Kindern muss Ziel der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik sein
    Zur Sicherung der Einheit von Familien mit Kindern sollte das Aufenthaltsrecht so umgestaltet werden, dass ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug auch dann besteht, wenn bereits in Deutschland lebende Familienmitglieder nicht über genügend Wohnraum verfügen und ihren Lebensunterhalt nicht unabhängig von Sozialleistungen bestreiten können. Die derzeitige Praxis zeigt, dass diese hohen Voraussetzungen zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen führen, die der schnellen Integration entgegenstehen. Zu oft scheitern Familienzusammenführungen, was einen extremen Eingriff in das Recht des Kindes auf ein Leben mit seinen Eltern darstellt.
  • Der Vorrang des Kindeswohls sollte für Flüchtlingskinder gesetzlich verankert werden
    Um die Bedeutung der Kinderrechte herauszustellen und den Willen zur vollen Umsetzung der Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention öffentlich zu betonen, ist die Aufnahme von Kinderechten im Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz geboten. Um sicherzustellen, dass im Asylverfahren und bei der Anwendung aufenthaltsrechtlicher Regelungen der Vorrang des Kindeswohls gemäß Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention gewährleistet wird, sollte dieses Prinzip im Gesetzestext an zentraler Stelle verankert werden. Zudem sollte in den Verwaltungsvorschriften bezüglich der Gesetzesnormen, bei denen Ermessensentscheidungen zu treffen sind und die Interessen von Kindern berührt werden, Hinweise auf den Vorrang des Kindeswohls aufgenommen werden.

Eine repräsentative Umfrage von infratest dimap im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes im Juni dieses Jahres hatte ergeben, dass zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland eine Verbesserung der rechtlichen Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland fordern. 67 Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass alle Kinder, die in Deutschland leben, die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben sollten. Zugleich konnte sich die Hälfte der Bundesbürger (50 Prozent) vorstellen, sich persönlich für Flüchtlingskinder beispielsweise durch Übernahme einer Patenschaft oder durch ehrenamtliche Hilfe zu engagieren, wenn den Kindern damit das Leben in Deutschland erleichtert werden könnte.

"Insbesondere die hohe Bereitschaft der Bevölkerung, sich mehr als bisher für Flüchtlingskinder in Deutschland zu engagieren, ist aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes ein ermutigendes Zeichen, dass die mit der Zunahme der Flüchtlingszahlen verbundenen Herausforderungen gemeistert werden können", so Krüger abschließend.

Quelle: Deutsches Kinderhilfswerk e.V.

Redaktion: Uwe Kamp

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