Ganztagsbildung

Interkulturelles Lernfeld Schule: Treibhäuser der Zukunft

Das Pilotprojekt "Interkulturelles Lernfeld Schule (IKUS)" soll interkulturelle Kompetenz vermitteln und die Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund fördern.

24.02.2010

Martina Nixdorf-Pohl
Martina Nixdorf-Pohl ist Koordinatorin des Projektes „Interkulturelles Lernfeld Schule (IKUS)“ bei IJAB - Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland.

Mit Ansätzen non-formalen Lernens werden in einem formal geprägten Lernfeld neue Impulse für eine ganzheitliche Bildung und Entwicklung gegeben. Ein Interview mit Martina Nixdorf-Pohl, Koordinatorin des Projektes, gibt Auskunft über Ziele und Fortschritte.


Warum wurde das Projekt ins Leben gerufen? Und warum ausgerechnet jetzt? 
Die europäischen Gesellschaften stehen vor vielen neuen Herausforderungen. Dazu zählen der Wandel in Wissensgesellschaften und die Interaktion in einer globalisierten Welt. Zukünftige Gesellschaften sind multinational und -kulturell. Bereits jetzt hat in Deutschland fast jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund. Es bedarf entsprechender Kompetenzen, um diese neue Lebenswelt zu meistern. Dazu gehört vor allem die Herausbildung und Förderung interkultureller Kompetenzen. Schule in der herkömmlichen und momentanen Struktur ist jedoch damit überfordert. Eine Kooperation von Schule mit Partnern non-formaler Bildung und internationaler Jugendarbeit könnte hier wichtige Entwicklungsimpulse setzen. 

Schule und Internationale Jugendarbeit sind zwei unterschiedliche Systeme. Was versprechen Sie sich von einer Kooperation zweier so ungleicher Partner? 
Auf individueller und gesellschaftlicher Ebene soll kulturelle Vielfalt als Bereicherung begriffen werden. Dies betrifft sowohl die Schüler//-innen, als auch die pädagogischen Fachkräfte. Es geht um Bewusstseins- und Verhaltensänderung, Abbau von Vorurteilen, Motivation und Fähigkeit zur Zusammenarbeit in internationalen Kontexten. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es auch darum, die Übernahme bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland und der Welt zu fördern. Auf pädagogischer Ebene werden Erfahrungen als „Good Practice“ in der Internationalen Jugendarbeit, in Schule und künftigen Kooperationen genutzt und weitergegeben. 

Wer setzt das Projekt in die Praxis um? Wer steuert den Prozess? 
Ausgewählte Träger der außerschulischen und internationalen Jugendarbeit sowie die Bezirksregierung Köln haben sich dieser Thematik und den genannten Herausforderungen angenommen. Sie wollen mit dem Projekt einen aktiven Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund leisten. 15 Tandems, bestehend aus einer Lehrkraft und einer Fachkraft der Internationalen Jugendarbeit, haben ihre Arbeit bereits aufgenommen. Ihr Arbeitsauftrag lautet, in den nächsten zwei Jahren gemeinsam acht bis zehn Bildungs- bzw. Lernmodule zu entwickeln und zu erproben, die interkulturelles Lernen an Schulen auslösen und fördern können. In der Steuergruppe sind Vertreter/-innen der internationalen Jugendarbeit, der Bezirksregierung, das Landesjugendamt und das BMFSFJ vertreten, das auch die finanzielle Förderung übernommen hat. IJAB koordiniert den gemeinsamen Prozess. 

Sie möchten die „interkulturellen Kompetenzen“ junger Menschen fördern. Was meinen Sie damit genau und welche Kernkompetenzen bringt die internationale Jugendarbeit dafür in das Projekt ein? 
Unserer Arbeit liegt ein dynamisches Modell von Kultur und Kompetenzanforderungen zugrunde. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Wahrnehmung von Multiperspektivität, Akzeptanz von Differenz und Wertschätzung von Vielfalt. Zu den Kompetenzen zählen interkulturell relevante allgemeine Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Belastbarkeit, emotionale Elastizität und Unsicherheitstoleranz) und interkulturell relevante soziale Kompetenzen, z.B. differenzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung, Fähigkeit zur Perspektiven- und Rollenübernahme, um wechselseitig befriedigende Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten Die hier genannten Anforderungen gehören zu den sozialpädagogischen Basiskompetenzen der internationalen Jugendarbeit, die in Kulturbegegnungen eine besondere Bedeutung und ggf. auch Brisanz erhalten. Deshalb sind die Fachkräfte der internationalen Jugendarbeit gute Partner, wenn es um die Förderung interkulturellen Lernens junger Menschen geht. Auch bringen sie mit ihrer konsequenten Sicht auf die Stärken junger Menschen, Subjekt- und Lebensweltorientierung sowie erlebnisorientierte, partizipative und ganzheitliche Lernformen neue Blickrichtungen in das Lernfeld Schule ein. Jugendliche bekommen Kontakt zur außerschulischen Jugendarbeit, aus dem sich Möglichkeiten ergeben, sich über Schule hinaus ehrenamtlich zu engagieren. Sie erhalten Impulse aus der Praxis für das eigene Leben, und bei Bewerbungen erhöht sich die Chance auf Einstellung. 

Das klingt nach viel Arbeit für die Fachkräfte der Jugendarbeit zum Wohl der Schule. Worin besteht denn der Gewinn der Kooperation für die Träger der Jugendhilfe? 
Für sie bietet es die Chance, im Lebensbereich der Jugendlichen bekannt zu werden, präventive Jugendhilfe zu betreiben und ihre ehrenamtlichen Strukturen zu stärken. Es ist eine Möglichkeit, ihre Werte auf breiter Basis zu vermitteln und eine stärkere Anerkennung des non-formalen Lernens zu erwirken, indem sie deutlich ihren Bildungsanspruch formulieren und belegen. Die Träger werden durch die Kooperation in die Lage versetzt, mehr Teilnehmende für Aktivitäten der internationalen Jugendarbeit zu erreichen, neue Zielgruppen anzusprechen und neue Mitglieder in Verbänden und Vereinen zu gewinnen. 

Sie sprechen vom interkulturellen „Lernfeld“ Schule. Was verbirgt sich dahinter und welche Lernmöglichkeiten ergeben sich konkret aus der Sicht von Schule? 
Die Metapher des Feldes weist schon darauf hin, dass hier kein punktueller, sondern ein breiter Lernansatz gewählt wurde. Deshalb werden auch nicht nur Schüler/-innen, sondern auch Eltern, Schulsozialarbeiter/-innen und Lehrer/-innen als Zielgruppen einbezogen. Der Schulleitung kommt hierbei eine herausragende Rolle zu. Das bedeutet keinesfalls, dass wir die Schüler/-innen aus dem Auge verlieren. Aber interkulturelles Lernen der Schüler/-innen setzt interkulturell kompetente Lehrer/-innen und ein entsprechendes Umfeld voraus. Damit das Wirken der Lehrer/-innen fruchten kann, muss der Boden bereitet werden. Die Bedeutung interkulturellen Lernens sollte sich im Leitbild, im Schulprofil- und -programm, ja, sogar in den symbolischen Ausdrucksformen der Schule und in den Räumlichkeiten widerspiegeln. Hier gilt es wirklich ein ganzes Feld zu beackern. Interkulturelle Schulentwicklung findet hierbei statt im Zusammenspiel von Personalentwicklung, Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung. Damit werden die Unterrichtsinhalte, -methoden und -situationen ebenso zum Thema wie die Elternarbeit, die Zusammenarbeit im Team und die Fortbildungen von Multiplikator(inn)en, Peers und Lehrer(inne)n. Letztere entwickeln sich dann vielleicht von Expert(inn)en für Lehren und Lernen auch zu Expert(inn)en für die Gestaltung von Beziehungen und Begegnungen. Auf der sozialen Seite sind die Einzelpersonen und ihre Beziehungen in den Blick zu nehmen. Die interkulturellen Kompetenzanforderungen richten sich aber nicht allein an die im Feld Schule tätigen Personen, sondern auch an die soziale Organisation Schule, in deren Rahmen diese handeln. Das interkulturelle Lernfeld Schule ist also mehrdimensional zu sehen. 

Das klingt nach einem hohen Anspruch. Überfordert das Projekt die reformgeplagten Schulen damit nicht? 
Das Gute daran ist, dass es für die Akteure auf allen Ebenen Ansatzpunkte gibt, so dass jede Schule ihren eigenen Entwicklungsweg mit je eigenen Schwerpunkten festlegen kann. Auch der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Schulentwicklung von oben hat sich in meinen Augen nicht bewährt, versuchen wir doch den Weg von unten unter Einbeziehung der handelnden Subjekte. 

Wie funktioniert Lernen in diesem Modellprojekt? Und wie wird das Lernen im Projekt unterstützt? 
Zunächst einmal: alle Akteure im Lernfeld Schule werden gleichermaßen als Lernende begriffen. Das was ich für die Gruppe der Schüler/-innen als Lernziele umrissen habe, betrifft gleichermaßen auch Leitung, Lehrer/-innen, Sozialarbeiter/-innen und Eltern, auch Hausmeister/-innen. Lernen vollzieht sich in unterschiedlichen Formaten: Internationalen Begegnungen, Projekten, Workshops, Festen und Feiern, im Unterricht, Elterncafe, um nur einige Orte zu nennen. Die zu entwickelnden Module und Beispiele guter Praxis sind Extrakte aus den Lernerfahrungen an diesen Orten. Auf der personalen wie auf der organisatorischen Ebene handelt es sich jedoch um mehr als bloßes „Dazulernen“. Es geht auch um die Entwicklung eines anderen Blicks, einer neuen Haltung und um die erfolgreiche Integration von Neuem in bereits Bestehendes, auch um neue Kooperationsformen im Sozialraum Schule. Für Schule ist dieses Lernen insofern fundamental, als die gesamte Organisationskultur davon betroffen ist. Dementsprechend fördert eine Auseinandersetzung mit interkulturellen Fragestellungen zugleich auch die grundsätzliche Lernfähigkeit der Organisation. Unter dieser Perspektive ist auch die Arbeit der trägerübergreifenden Tandems spannend. In einem Gespann, das aus Vertreter(inne)n zweier Bildungssysteme bzw. -kulturen besteht, kann man durchaus von Lernen in einer kulturellen Überschneidungssituation sprechen. Die Reflexion dieses besonderen interkulturellen Lernprozesses ist sicher ein Gelingensfaktor. Die Tandempartner/-innen und andere Akteure des Projektes werden durch die bundeszentrale Koordinationsstelle bei IJAB unterstützt und auf Wunsch individuell beraten und können im Rahmen des Projektes an Fortbildungen und Tagungen teilnehmen. Ein gemeinsames Partnerportal soll netzwerkbasierten Austausch und gemeinsames Lernen in Eigenregie ermöglichen. Auch die wissenschaftliche Begleitung sieht sich von ihrem Selbstverständnis punktuell in beratender Funktion, indem sie ihre Forschungsergebnisse regelmäßig an die Beteiligten zurückspiegelt und ihre Arbeit auf diese Weise inhaltlich unterstützt. 

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft. Wie wird die Nachhaltigkeit der Ergebnisse gewährleistet? 
Im Rahmen des Projektes werden neue Lernformate und Bildungsangebote entwickelt, die auf den individuellen Bedarf, die Zielgruppen und das Curriculum der jeweiligen Schule bzw. den Schultyp zugeschnitten sind. Damit erhalten zunächst die am Projekt beteiligten Schulen maßgeschneiderte Lösungen. Die Beispiele guter Praxis werden jedoch am Ende des Projektes allen Schulen und Trägern zugänglich gemacht, zum einen in Form einer Fachveröffentlichung, aber auch im Rahmen einer Nachhaltigkeitskonferenz im Herbst 2011. Spätestens dann können interessierte Träger und Schulen aus dem ganzen Bundesgebiet auf den Zug aufspringen, gern aber auch schon als Teilnehmende bei der Zwischenkonferenz im Herbst 2010. Vielleicht wird IKUS ja mal eine Auszeichnung für Schulen mit interkulturellem Profil. Im Laufe des Projektes könnten wir die möglichen Entwicklungspfade zu diesem Ziel aufzeichnen, sozusagen step by step. Meine persönliche Vision ist eine menschliche Schule, die sich zu einem Lebensraum entwickelt, zu einem für Schüler/-innen, Lehrer/-innen und Eltern stimulierenden und kulturell anregenden Ort, zu einem Labor für Bildung und zu „Treibhäusern der Zukunft“. Ein Ort, der kulturelle Vielfalt schätzt und nutzt. Non-formale Bildung, und internationale Jugendarbeit im Besonderen, kann hier einen wesentlichen Entwicklungsbeitrag leisten. Ich schau mit großer Spannung, professioneller Neugier und voller Hoffnung auf dieses interkulturelle Lernexperiment!

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