EU-Jugendstrategie

"Inklusion muss europapolitisch eine Selbstverständlichkeit werden"

Wie können Chancengleichheit und Inklusion im EU-Programm Erasmus+ gefördert werden? Welche Unterstützungsstrukturen sind notwendig und welche Erfahrungen gibt es bereits? Mit diesen und weiteren Fragen hat sich das erste deutschsprachige Erasmus+ Forum "Inklusion und Bildung" beschäftigt, das Mitte März in Wien stattfand.

26.04.2016

Selbst der repräsentative Saal im Europahaus Wien hat mit seinem Platzangebot nicht ausgereicht, zu groß war das Interesse der mehr als 300 geladenen Gäste.

Entscheidungsträger, Experten, Projektpartner und (potenzielle) Antragssteller im EU-Programm Erasmus+ – sie alle wollten wissen, wie das Inklusions- und Bildungsnetzwerk in ihrem Land jeweils noch besser zusammenarbeiten und wie der gegenseitige Austausch verstärkt werden kann. Zwei halbe Arbeitstage – voll bepackt mit Vorträgen, Workshops und Vorstellungen von Projekten Guter Praxis.

"Thinking out of the box"

Gleich zu Beginn führte der Däne Søren Kristensen (Techne) in seiner Keynote den Begriff "thinking out of the box" ein, der vom Publikum regelmäßig aufgegriffen wurde. "Thinking out of the box" will dazu ermuntern, über den eigenen Projekt-Tellerrand zu schauen, das Thema Inklusion immer wieder neu zu denken und aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Kristensen forderte dazu auf, Auslandsaufenthalte für einzelne Teilnehmer im Bedarfsfall maßzuschneidern und Hürden weitgehend abzubauen. So hätten manche Personen erst am Programm teilnehmen können, als man ihnen die Möglichkeit gab, mehrere kurze Auslandsaufenthalte zu absolvieren.

Der Däne betonte, dass die Auswahl der Teilnehmer auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen müsse. Lernziele müssten klar benannt und die Form der Mobilitäts-Maßnahme sorgfältig ausgewählt werden. „"Außerdem ist die Nachbereitung für Benachteiligte sehr wichtig. Spaß allein im Ausland haben reicht nicht aus", so Kristensen.

"Was heißt Inklusion?“ Dieser Frage ging die österreichische Kultur- und Sozialanthropologin Maria Steindl in ihrem Vortrag nach und versuchte es zunächst mit einer Begriffsklärung. Für die Wissenschaftlerin schafft Inklusion die "gleiche Voraussetzung für Menschen oder Gruppen, die auf Grund verschiedener Faktoren einen erschwerten Zugang zu Angeboten und Möglichkeiten der Mehrheitsgesellschaft haben."

Handlungsleitend sollten die Potenziale der Menschen sein. Inklusion versteht Steindl in Abgrenzung zu Exklusion, Separation und Integration. Es gehe darum, einen positiven Zugang zu Komplexität zu schaffen. "Man muss die Ängste der Leute abbauen, ihnen Sicherheit und Zugehörigkeit geben, ohne ihnen etwas aufs Auge zu drücken. Mitbestimmung führt letztlich auch zur Eigenverantwortung", so Steindl. An einem ließ aber auch die Kultur- und Sozialanthropologin keinen Zweifel: "Inklusion braucht Zeit."

Mario Steiner, Leiter der Forschungsgruppe "equi – equity and education" am Wiener Institut für Höhere Studien beschrieb das Problem der Bildungsarmut in Europa als größer als allgemein angenommen. Vor allem selektive Strukturen würden zu vorzeitigen Bildungsabbrüchen beitragen, so Steiner. Im Rahmen von Erasmus+ plädierte er unter anderem dafür, die Lernmobilität von Einzelpersonen zu stärken. Um dies weiter auszubauen, könne er sich sowohl für Lehramtsstudierende als auch für Lehrer an Schulen ein Sonderprogramm sehr gut vorstellen.

Soziale Exklusion ist immer auch ein Ergebnis politischer Entscheidungen

In sieben Foren beschäftigten sich die Teilnehmenden mit den Themen:

  • Menschen mit besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten,
  • Zugang zu Bildung für sozial Benachteiligte,
  • Generation 50+,
  • Drop-out,
  • Partizipation und Beteiligung,
  • Soziale Dimension des Zugangs zur Bildung sowie
  • Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten.

Der thematisch weit gefächerte Partizipations-Workshop setzte sich kritisch mit den Grenzen und praktischen Möglichkeiten sozialer Inklusion auseinander. Jochen Butt-Posnik von der Service- und Transferstelle zur EU-Jugendstrategie bei JUGEND für Europa stellte das Versprechen der sozialen Inklusion infrage, dass sich bei genügend Anstrengung und Anpassung auch für Angehörige sozial ausgegrenzter Gruppen ein aussichtsreicher Platz in der Gesellschaft finden lasse. Soziale Exklusion sei immer auch das Ergebnis politischer Entscheidungen, so seine These.  Bildungs- und Projektarbeit mit den betroffenen Zielgruppen müsse daher immer auch politische Bildung und Empowerment beinhalten.

Dem wollte Eike Totter, freiberuflicher und interkultureller Coach, nicht widersprechen. Aus der Praxis interkultureller Bildungsarbeit brachte er Beispiele ein, wie sich für die Betroffenen der Bereich für (Selbst-)Wirksamkeit vergrößern lässt. Viele Beiträge aus der anschließenden Diskussion und Workshop-Phase erörterten schließlich, welche Rolle das Programm Erasmus+ einnehmen und welchen Freiraum es bieten kann.

Arbeitserleichterungen bei der Antragstellung von Erasmus+ werden gefordert

Die Teilnehmenden des Forums "Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten" begrüßten, dass Erasmus+ auf die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa reagiert hat. "Es ist richtig und wichtig", dass das Programm die Zielgruppe der Flüchtlinge, Asylsuchenden und Migranten in den Leitaktionen noch einmal gesondert für förderfähige Projektaktivitäten in den Blick genommen hat, so Michael Marquart von der Nationalen Agentur Bildung für Europa beim BIBB. Ronald Schönknecht von JugendStil e.V. aus Plauen beschrieb die neu etablierten strategischen Partnerschaften als effizient und flexibel.

Viele Antragsteller nutzten aber auch die Gelegenheit, für Arbeitserleichterungen bei Erasmus+ zu werben. Gerade bei Projekten zur Inklusion sollte der Fokus stärker auf den Prozessverlauf als auf das finale Ergebnis gerichtet werden. "Wir wissen am Anfang manchmal einfach noch nicht, was am Ende dabei herauskommt", so ein Antragsteller, "deshalb sei das Vorhaben aber nicht gerade schlechter."

Immer wieder wurde der Wunsch nach einem niedrigschwelligeren Programm artikuliert. So sollten auch kleinere Projekte mit kleinen Budgets ermöglicht werden. So mancher Träger wünscht sich mehr Termine im Jahr, an denen er sein Projekt einreichen kann.

Inklusion sollte als Abbau von Grenzen verstanden werden

"Inklusion muss europapolitisch einfach eine Selbstverständlichkeit werden", forderte Christians Ruhs vom österreichischen Bundesministerium für Bildung und Frauen. In Wien geht man bereits mit gutem Beispiel voran. Seit 2012 gibt es einen inter-ministeriellen Aktionsplan für Inklusion auf allen Ebenen, sagte Ruhs. Er erklärte, dass er den Begriff als Synonym für den Abbau von Grenzen jeglicher Art verstanden haben will.

Seine Kollegin Ingrid Nemec vom Bundesministerium für Familien und Jugend nannte Inklusion die Kernkompetenz des Jugendsektors. "Normal ist das Vorhandensein von Unterschieden", sagte Nemec und forderte gerade mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingskrise nicht nur theoretische Diskussionen, sondern mehr praktische Antworten. Für das laufende Jahr habe man sich zudem viel vorgenommen. Schließlich sei 2016 auch das Jahr der Jugendarbeit.

Wer sich die Ergebnisse und Schlussbemerkungen des Forums am Ende durchlas, konnte nur einen Eindruck bekommen: Die, die da waren, haben eine Menge mit nach Hause genommen. "Diversität und Inklusion sind oft anstrengend, sie dürfen es aber auch sein", war auf einer Stellwand zu lesen. Darunter standen Anmerkungen wie: "Chancengleichheit ist nicht Chancengerechtigkeit" oder "Diversität erkennen, um Frieden zu schaffen". Und ein Fazit lautete: "Unsere kleine Organisation hat echt viel Know-How. Da bin ich eigentlich ganz schön stolz drauf."

Hintergrundinformationen

Die Förderung von Chancengleichheit und Inklusion ist ein zentrales Anliegen des EU-Programms Erasmus+. Vor diesem Hintergrund fand die gemeinsame Veranstaltung aller deutschsprachigen Erasmus+ Nationalagenturen aus den Bereichen Bildung und Jugend am 13. & 14. März 2016 in Wien statt.

Quelle: Marco Heuer für JUGEND für Europa

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