Gesundheit
Sozialpädiater fordern politisches Handeln: Kinder, die arm sind, sind auch häufiger krank
Führt die zunehmende Kinderarmut in Deutschland zu einer Zwei-Klassengesellschaft im Gesundheitssystem? Oder stellt Armut das größte Gesundheitsrisiko für Kinder in Deutschland dar? In kaum einem anderen industrialisierten Land besteht zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen solch ein enger Zusammenhang.
18.11.2016
Zu diesem ernüchternden Fazit kommt Dr. Christian Fricke, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) und Ärztlicher Leiter des Werner Otto Instituts in Hamburg. Denn im Kampf gegen die Kinderarmut kann Deutschland wahrlich kein gutes Zeugnis ausgestellt werden. So liegt der Anteil der Kinderarmut in Deutschland bei 15 Prozent. Knapp zwei Millionen Kinder in Deutschland müssen unter Hartz IV Bedingungen leben, also ab 2017 von 291 Euro (6-13 Jährige) oder 237 Euro (Kinder unter 6 Jahren).
Dagegen muss in deutlich ärmeren Ländern wie der Slowakei oder Ungarn lediglich jedes zehnte Kind in Armut leben, berichtete Prof. Benard P. Dreyer, Präsident der American Academy of Pediatrics, bei der Jahrestagung 2016 der DGSPJ in Hamburg. Zudem fallen mindestens 10 Prozent aller Kinder, die unter Armutsbedingungen aufwachsen, durch das Netz der Gesundheitsversorgung.
Arme Kinder werden häufiger krank, sind aber schlechter versorgt
Konkret stellt sich die Lebenssituation von Kindern in prekären Lebenssituationen nach einer Analyse von Prof. Volker Mall, Sozialpädiater und Ärztlicher Direktor im Kinderzentrum München, wie folgt dar: Obwohl arme Kinder häufiger krank werden, erhalten sie seltener Medikamente als Mittel- und Oberschichtkinder. Etwa acht Euro pro Monat sieht der Hartz-IV-Regelsatz für die „Gesundheitspflege“ eines Kindes vor. Notwendig wären nach Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zwischen 12,68 und 14,69 Euro. Arme Kinder essen auch ungesünder, warnt Volker Mall. So leiden in der Altersgruppe der 11- bis 13-Jährigen weniger als vier von hundert Kindern mit hohem Sozialstatus unter krankhaftem Übergewicht, bei Gleichaltrigen mit dem niedrigsten Status sind es mehr als dreimal so viele.
Familien von Kindern mit chronischen Erkrankungen sehen zu über 50 Prozent die Ursache für ökomische Probleme in der Erkrankung des Kindes. Auch ADHS kommt im Kontext mit Armut gehäuft vor. Die American Academy of Pediatrics hat die vielfältigen Auswirkungen von Armut auf die Kindergesundheit jetzt ausgiebig analysiert und erschütternde Ergebnisse veröffentlicht. 2014 haben 21,1 Prozent (15,5 Millionen) Kinder und Jugendliche in den USA in Armut gelebt. Bei alleinerziehenden Eltern beträgt die Rate sogar 45 Prozent (gegenüber 13 Prozent bei 2 Elternteilen).
Wohnumfeld und Kindersterblichkeit hängen zusammen
Ein niedriger sozioökonomischer Status hat zudem nicht nur in den USA nachteilige Auswirkungen auf das Wohnumfeld, auf eine erhöhte Gewaltexposition (zum Beispiel für Kindesmisshandlungen) und auf eine erhöhte Rate an Verkehrsunfällen als Fußgänger und Radfahrer. Daraus resultiert eine um das fünffach höhere Rate an „Unintentional injuries.“ (unbeabsichtigte Verletzungen). Würde es gelingen die Rate an „Unintentional injuries“ und an Totschlagdelikten in den sozial benachteiligten Wohngebieten auf das Niveau der wohlhabenden Communities absenken, würde man die gesamte Kindersterblichkeit der USA glatt um ein Drittel senken können.
Kooperationen von Sozialpädiatrie, Sozialhilfe, Jugend- und Gesundheitsämtern nötig
Hier würden sich also Investitionen gleich in vielfacher Weise auszahlen, ist DGSPJ-Präsident Christian Fricke überzeugt. Dazu müssen aber Pädiater, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter an einem Strang ziehen. Die Sozialpädiatrie in Deutschland ist hier vorbildlich aufgestellt, sowohl in der ambulanten Sozialpädiatrie wie auch in spezialisierten Einrichtungen in den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), von denen es in Deutschland inzwischen rund 155 gibt. Doch die Sozialpädiatrie muss dringend weiterentwickelt werden. Besonders auszubauen sind die Kooperationen mit den Trägern der Sozialhilfe, mit Jugend- und Gesundheitsämtern und mit den sozialpädagogischen Diensten innerhalb der SPZ. Ein weit stärkeres Augenmerk muss in sozial benachteiligten Familien auch auf die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion gelegt werden.
Die DGSPJ hat darauf mehrfach in Presseerklärungen hingewiesen und fordert dabei auch die Einsetzung eines Kinderbeauftragten der Bundesregierung. Notwendig seien zudem aufsuchende und mobile Dienste und niedrigschwellige Anlaufstellen, um künftig auch die Familien zu erreichen, die bislang durch Versorgungsmaschen gefallen sind. Das sind mindestens 60.000 Kinder pro Geburtenjahrgang.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 14.11.2016
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