Im Gespräch

Jugend und Corona – Milliarden für die jungen Menschen in Europa

Florencia van Houdt ist Referatsleiterin in der Generaldirektion für Bildung, Jugend, Sport und Kultur der EU-Kommission. Im Rahmen der Gesprächsreihe über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Lebenswelten hat das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe mit ihr gesprochen, um zu erfahren, was auf politischer Ebene in Brüssel getan wird, damit die jungen Menschen nicht zu den Verlierern der Corona-Krise gehören.

26.11.2020

Florencia van Houdt ist die Leiterin des Referats für Jugend, Freiwilligensolidarität und Praktika in der Europäische Kommission – Generaldirektion für Bildung, Jugend, Sport und Kultur (Head of Unit for Youth, Volunteer Solidarity and Traineeships Office, European Commission – Directorate General for Education, Youth, Sport and Culture).

Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe: Sie haben immer wieder betont, dass es wichtig ist Jugendlichen zuzuhören. 2017 war sogar das „Year of Listening“. Was hören Sie jetzt in der Corona-Krise von den Jugendlichen aus den verschiedenen Ländern?

Florencia van Houdt: Nach ersten Erkenntnissen leiden junge Menschen stärker unter den Folgen der Pandemie als andere Altersgruppen. Wir hören, dass es ihnen schlechter geht, sie vermehrt an Depressionen leiden und Schwierigkeiten haben, ihre Rechte wahrzunehmen. Hinzu kommt, dass einige ihren Arbeitsplatz verloren haben, während anderen der Zugang zu Bildung verwehrt wird, weil sie beispielsweise keinen Laptop oder Computer besitzen. Da diese Probleme über einen längeren Zeitraum hinweg tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben junger Menschen haben werden, wird die EU durch ihre Jugendpolitik und -programme wie Erasmus, das Europäische Solidaritätskorps oder die Jugendgarantie Unterstützung anbieten.

Die EU setzt sich dafür ein, dass Jugendliche am politischen Geschehen beteiligt werden. Welche Möglichkeiten haben sie in dieser Zeit, um ihre Bedürfnisse zu artikulieren damit ihre Forderungen umgesetzt werden?

Eines der wichtigsten Instrumente, um Jugendlichen Gehör zu verschaffen, ist der EU-Jugenddialog. Bereits seit zehn Jahren bringt dieser Prozess junge Menschen und Entscheidungsträger in Europa zusammen, um sicherzustellen, dass Meinungen, Bedürfnisse und Ansichten der Jugendlichen bei der Gestaltung relevanter politischer Themen berücksichtigt werden. Der letzte Schwerpunkt „Demokratie und Teilhabe“ richtete sich an mehr als 56.000 junge Menschen. Abgesehen von EU-Jugendkonferenzen, die alle sechs Monate stattfinden, wird dieser Dialog von unten nach oben durch Debatten, Aktivitäten, Konferenzen und Umfragen gespeist, die in allen EU-Mitgliedstaaten organisiert werden.

Wie können Jugendliche erreicht werden, die bis vor der Krise nicht organisiert waren – jetzt aber plötzlich dringend Hilfe benötigen, weil beispielsweise die Familie kein sicherer Ort mehr für sie ist?

Wir raten jungen Menschen in ihren Heimatorten nach den entsprechenden Einrichtungen für Jugendliche zu suchen. Solche spezialisierten Unterstützungsangebote gibt es in ganz Europa. Wenn junge Menschen nicht wissen wohin sie sich wenden sollen, können sie über das Europäische Jugendportal eine Frage stellen. Dort hilft man ihnen weiter, indem man sie über die entsprechenden Dienste und Angebote in ihrem Heimatland informiert. Momentan unterstützt die EU eine neue europäische Jugendarbeitsagenda, um die Qualität und Anerkennung von Jugendarbeit zu verbessern. Dazu gehört beispielsweise auch, den Einsatz digitaler Mittel zu fördern.

Der Jugendaustausch zwischen den Ländern der EU ist in den letzten Jahrzehnten zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Pandemie hat die meisten Programme gestoppt. Wie kann trotzdem ein Dialog weitergeführt werden?

In der Tat mussten viele Aktivitäten, einschließlich des persönlichen Jugendaustauschs vor Ort im Rahmen von Erasmus+, wegen der COVID-19 Pandemie abgesagt oder verschoben werden. Es wurden aber folgende Maßnahmen ergriffen, um die Programme, die davon betroffen sind, in dieser schwierigen Situation zu unterstützen:

  • Die Dauer der Projekte kann verlängert oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.
  • Aktivitäten, die nicht persönlich vor Ort wahrgenommen werden können, sollten online organisiert werden.

Inzwischen steht auch eine Vielzahl von Tools zur Verfügung, die die virtuelle Mobilität und den Jugenddialog in digitalen Räumen ermöglicht.

Die Pandemie ist international. Jugendliche nicht nur in Europa sind davon betroffen. Ist das auch eine Chance – um den Austausch, das Verständnis und das Gemeinschaftsgefühl untereinander zu stärken?

Tatsächlich kann eine Krise auch eine Chance für Veränderungen sein. So haben viele junge Menschen in ihren Gemeinden große Solidarität gezeigt, indem sie sich freiwillig gemeldet haben, um beispielsweise Masken herzustellen oder Lebensmittel und Medikamente an die am meisten gefährdeten Personen in ihrer Gesellschaft zu liefern. Mit dabei waren auch Freiwillige des Europäischen Solidaritätskorps.

Außerdem hat die EU, die im Rahmen von Erasmus+ im Jahr 2020 veröffentlichte Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen für „Europäische Jugend zusammen“ neu ausgerichtet. So sollen Netzwerke unter jungen Europäern gefördert werden, die vor dem Hintergrund der Pandemie integrativ zusammenarbeiten.

Die meisten jungen Menschen in Europa sind digital natives. Welche Chancen hat die digitale Welt während der Krise für sie und inwieweit nutzt die EU diese Gelegenheit, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben?

Trotz der düsteren Aussichten haben viele junge Menschen innovative und kreative Wege gefunden, um sich digital zu engagieren. Sie fühlen sich auch weiterhin mit den Themen verbunden, mit denen sie vor der Pandemie offline unterwegs waren. Es lohnt sich, daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Zudem umreißt der Aktionsplan für digitale Bildung (2021-2027) die Vision der Europäischen Kommission für eine qualitativ hochwertige, integrative und zugängliche digitale Bildung in Europa. Es ist ein Aufruf zum Handeln für eine stärkere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, um:

  • aus der COVID-19-Krise zu lernen, dass Technologie inzwischen in beispiellosem Umfang in der allgemeinen und beruflichen Bildung eingesetzt wird
  • Bildungs- und Ausbildungssysteme für das digitale Zeitalter fit zu machen.

Kulturelle Einrichtungen waren immer eine Anlaufstelle für Jugendliche. Jetzt sind sie in vielen Ländern aufgrund finanzieller Schwierigkeiten von der Schließung bedroht. Wie kann die EU hier unterstützen?

Die soziale Dimension der Kultur ist wichtig und daher eine Priorität in der neuen europäischen Kulturagenda der EU-Kommission. Während viele Kulturinstitutionen ihre Veranstaltungsorte während der Pandemie vorübergehend schließen mussten, bieten viele von ihnen immer noch die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen online oder im Freien am kulturellen Leben teilzunehmen. Die EU-eigene Kulturschatzkammer Europeana bietet zudem einen Online-Zugang zu Millionen von Büchern, Musik, Kunstwerken und vielem mehr. Sie bietet außerdem Möglichkeiten zur Interaktion und zum Teilen über soziale Medien; und veranstaltet inspirierende Ausstellungen, Aktivitäten und Wettbewerbe.

Jugendliche sind es gewohnt sich zu treffen – auch im öffentlichen Raum. Das ist in vielen Regionen nicht mehr möglich bzw. sogar verboten. Gibt es Überlegungen wie die EU in dieser Hinsicht Abhilfe schaffen kann?

Die EU-Kommission arbeitet mit nationalen politischen Entscheidungsträgern zusammen, um Erfahrungen und bewährte Verfahren auszutauschen, einschließlich der Notwendigkeit, in Zeiten von COVID-19 für das Wohlergehen junger Menschen zu sorgen. Derzeit konzentrierten sich die Bemühungen darauf, Wissen zum gemeinsamen Nutzen der politischen Entscheidungsträger der EU und der nationalen Staaten zu sammeln. EU-Programme können Unterstützung bieten, beispielsweise könnten junge Menschen beim Europäischen Solidaritätskorps Mittel beantragen, um Solidaritätsprojekte in ihren eigenen Gemeinden durchzuführen.

Vor welchen Herausforderungen steht die EU im Allgemeinen, um zu verhindern, dass die Jugend zu den Verlierern der Krise zählt?

Ein zentrales Anliegen für die kommenden Jahre wird die Jugendarbeitslosigkeit sein. Die EU hat sich auf den Wiederauffüllungsplan „Next Generation EU“ in Höhe von 750 Milliarden Euro geeinigt, der wichtige Maßnahmen zur Unterstützung junger Menschen umfasst; beispielsweise 20 Milliarden Euro für die Beschäftigung von Jugendlichen und eine spezielle Jugendgarantie zur Gewährleistung einer angemessenen Unterstützung für junge Arbeitsuchende.

Haben Sie einen Rat für die Fachkräfte, die in den Bereichen für Jugendliche und Kinder arbeiten?

Die EU-Kommission arbeitet jeden Tag sehr gut mit Akteuren des Jugendsektors, politischen Entscheidungsträgern, Experten und Jugendvertretern zusammen, um den Zugang zu relevanten Wissensquellen, Beispielen bewährter Verfahren und Toolkits in bestimmten Bereichen sicherzustellen.

Ein Ansatz der Jugendforschung besteht weiterhin darin, bei jungen Menschen die Übergänge zum Erwachsenenalter und zur Autonomie zu untersuchen. Covid-19 hat all diese Übergänge in Frage gestellt. Das wirkt sich auch auf die Akteure im Jugendbereich aus. Während der zunehmende Einsatz digitaler Instrumente bei der Arbeit mit jungen Menschen im Rahmen der formalen und nicht formalen Bildung in ganz Europa deutlich zu spüren ist, ist auch deutlich geworden, dass es Bedürfnisse von jungen Menschen gibt, auf die nicht reagiert wurde.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte: Caroline Schmidt-Gross

Gesprächsreihe vom Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe

In unserer Gesprächsreihe fragen wir z.B. Schüler/-innen, Studierende, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, Vertreter/-innen aus dem Bundesfamilienministerium sowie junge Menschen mit Fluchterfahrung, wie sie derzeit ihren Alltag erleben, welche Eindrücke und Wünsche sie haben. 

Das nächste Gespräch in unserer Reihe ist mit:
Rebecca Romes und Viktoria Hahn vom Kompetenzzentrum Jugend-Check (KomJC)

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