Europa

Belarus: Virus, Wahlen und die Jugend – Ein starker Sinn für Gerechtigkeit

Demonstration in Minsk am 30. Juli 2020

In Belarus fanden Präsidentschaftswahlen statt. Dabei wurde die Corona-Pandemie zum Politikum. Sie trifft auf die Unzufriedenheit mit den politischen Eliten. Es sind vor allem junge Menschen, die gegen Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka auf die Straße gingen. IJAB hat mit Dzmitry Herylovich, dem Vorsitzenden von RADA, dem Nationalen Jugendrat von Belarus, über die Situation der Jugend im Lande gesprochen.

13.08.2020

ijab.de: Herr Herylovich, wie geht es der belarusischen Jugend in der Coronakrise?

Dzmitry Herylovich: Wir haben keine glaubwürdigen Daten über die Ausbreitung der Epidemie und die Signale der Politik sind widersprüchlich. Von Seiten von Präsident Lukaschenka sind keinerlei Maßnahmen ergriffen worden. Für ihn ist das Coronavirus Fake News. Zeitgleich hat das Gesundheitsministerium Informationen zur Vermeidung von Infektionen herausgegeben, also zum Tragen von Gesichtsmasken und zur Einhaltung von Mindestabständen. Das Kulturministerium hat alle Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen untersagt. Für größere Veranstaltungen benötigt man eine Ausnahmegenehmigung. Das betrifft natürlich den Betrieb der Universitäten, aber auch Freizeitmöglichkeiten, und damit betrifft es auch das Leben vieler junger Menschen. Ansonsten folgt das Bildungsministerium der Linie des Präsidenten – in sowjetischem Stil.

Der erste offizielle Corona-Patient war übrigens ein Student aus dem Iran. Er hatte sich während einer Italienreise infiziert und dann unwissentlich andere Studierende angesteckt. Die Uni wurde daraufhin geschlossen und 200 oder 300 Studierende in ein Sanatorium in der Nähe von Minsk in Quarantäne geschickt. Erst dann haben sich die Universitäten auf die veränderte Situation eingestellt und das Lernen von Zuhause aus ermöglicht. Zuvor waren einzelne Studierende von den Universitäten verwiesen worden, weil sie sich weigerten unter den Bedingungen der Epidemie an Präsenzveranstaltungen teilzunehmen.

Wie ist die Situation an den Schulen? Ist dort auf Online-Unterricht umgestellt worden?

Das Coronavirus hat Belarus und die Hauptstadt Minsk relativ spät im März erreicht – zu einem Zeitpunkt, als die Epidemie in Italien oder Deutschland schon weit fortgeschritten war. Wir haben in der letzten Märzwoche in Belarus üblicherweise Schulferien. Die sind verlängert worden. Es waren dann weniger die Schulen, als die Lehrerinnen und Lehrer, die Online-Unterricht angeboten haben. Viele Schülerinnen und Schüler bleiben jetzt zuhause – allein oder mit den Großeltern oder bei Nachbarn – und versuchen am Online-Unterricht teilzunehmen. Offiziell sind die Schulen aber weiterhin offen und die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, am Präsenzunterricht teilzunehmen. Mir sind aber keine Fälle bekannt, in denen versucht worden wäre, diese Verpflichtung durchzusetzen. Es ist zu keinen Rechteverletzungen gekommen. Dennoch hat es öffentliche Diskussionen gegeben und viele meinten, man solle das Schuljahr einfach beenden.

Haben die Coronakrise und die erwähnten Diskussionen einen Einfluss auf die Präsidentschaftswahlen?

Nicht für unseren Präsidenten. Er sagt, als tapfere Nation bräuchten wir keine Quarantäne und stellt sich gerne als starken Mann dar, dem das alles nichts ausmacht. Er verweist natürlich auch auf die schlechten Wirtschaftsdaten anderer Länder nach dem Lockdown.

Und was denken die Wählerinnen und Wähler?

Die sind wütend angesichts der ganzen Ignoranz. Wir hören sogar aus der Armee und der staatlichen Verwaltung, dass man dort Angst vor Ansteckung hat. Besonders groß ist die Angst in den Krankenhäusern, die völlig unvorbereitet mit dieser Krise konfrontiert wurden. Dem medizinischen Personal fehlte es am Nötigsten. Wir konnten eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Initiativen beobachten, die Schutzmasken und -anzüge besorgt und an die Krankenhäuser ausgeliefert haben.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Leute, die vom Thema Corona langsam müde werden. Das hat sicher auch damit zu tun, dass niemand sagen kann, wie lange das noch so weiter geht. Die Leute reisen auch wieder. Ich bin kürzlich von Minsk nach Gomel – im Osten von Belarus – gefahren und der Zug war ausverkauft.

Ja, die Corona-Epidemie wird sicher Auswirkungen auf die Wahlen haben. Viele glauben nicht mehr an die offiziellen Statistiken. Es gibt keinerlei Beweise für das, was uns die Regierung erzählt. Eher geht es um das Image des Präsidenten als starker Mann. Die Zahlen der täglichen Neuinfektionen haben zum Beispiel nie die symbolträchtige Zahl von 1.000 überstiegen. Angeblich sind bisher auch nur 500 Menschen gestorben. Unsere Situation ist vielleicht am ehesten mit Schweden vergleichbar, wo es auch keinen harten Lockdown gegeben hat. Dort sind die Zahlen aber viel höher. Unser Präsident sagt, die Toten seien nur ein paar sehr alte Leute gewesen oder an ganz anderen Krankheiten gestorben. Niemand glaubt das. Die Leute sind wütend. Die Corona-Pandemie ist also direkt mit den Präsidentschaftswahlen verbunden.

Es fällt auf, dass auf den Fotos von den Protesten gegen Präsident Lukaschenka hauptsächlich junge Leute zu sehen sind. Wie würden Sie diese junge Generation beschreiben?

Die meisten Protestierenden sind tatsächlich unter 30 und sehr selbstbewusst. Sie werden von einem starken Sinn für Gerechtigkeit angetrieben. Sie waren nie Teil des politischen Systems und sind von jeder Mitwirkung immer ferngehalten worden. Eine große Rolle spielen Bürgerrechte. Die jungen Menschen sind es leid, dass die Gesetze für sie anders ausgelegt werden, als für Politikerinnen und Politiker.

Wir erleben gerade sehr seltsame Wahlen. Alle drei Oppositionskandidaten haben vor ihrer Verhaftung kein politisches Programm vorgelegt. Das erinnert an Selenskyj in der Ukraine. Stattdessen betonten sie immer wieder ihre guten Beziehungen zu Russland. Wir wollen aber nicht Teil von Russland sein. Wir haben gesehen, was in der Ukraine, in Georgien und in Armenien geschehen ist. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man uns Bürger- und Menschenrechte in Russland anpreist. Auch die jetzt aussichtsreichste Oppositionskandidatin, Swetlana Tichanowskaja, hat kein Programm. Immerhin möchte sie, sollte sie gewählt werden, Neuwahlen innerhalb von 6 Monaten ansetzen – Wahlen unter fairen Bedingungen.

Die jungen Leute blicken nach Europa. Sie möchten reisen, etwas erleben, vielleicht auch einfach nur ein bisschen mehr Geld verdienen, als sie das zuhause können. Für diejenigen im Westen von Belarus, die oft Verwandte in Litauen oder Polen haben, ist das auch oft möglich. Aber viele stoßen auch auf Sprachbarrieren. Für sie ist es einfacher, nach St. Petersburg oder Moskau zu gehen, wo sie Russisch sprechen können.

Wir haben außerdem eine große Kluft zwischen Stadt und Land. Auf den Dörfern kann man solche Sachen hören, wie „Europa ist ja schön und gut, aber ich will hier keine Invasion von Schwulen und Lesben haben“, Dinge, die die Menschen im Staatsfernsehen hören. Auch das hat natürlich mit der Sprache zu tun und welche Medien dadurch zur Verfügung stehen oder eben auch nicht. Manche haben auch Angst, als Verlierer dazustehen, wenn wir uns Europa annähern würden.

Was wird nach dem Wahlsonntag geschehen?

Ich weiß es nicht. In Belarus ist die Regierung der einzige Provider für das Internet. Es ist gut möglich, dass sie das Internet stark einschränken wird, um Proteste zu verhindern. Das gilt vor allem für soziale Medien. Die Opposition hat daher schon jetzt Versammlungsorte für Proteste angekündigt. Was für die jungen Leute wichtig ist, ist dass ihre Proteste Wirkung zeigen. Das wollen sie unbedingt erleben. Und eines möchte ich noch betonen: Die Proteste sind absolut gewaltfrei. Wenn in den Medien gewalttätige Szenen zu sehen sind, dann ging das nie von den Protestierenden aus. Es ist die Gewalt der Polizei, die dort zu sehen ist.

Weitere Informationen und Beiträge zum Thema Demokratio und Menschenrechte in Europa stellt IJAB zur Verügung: www.ijab.de/themen/demokratie-und-menschenrechte

Quelle: IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., Christian Herrmann

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