Kinder- und Jugendarbeit

Vernetzte Freiheit im Web2.0

Eine fordernde Meinung von Jürgen Ertelt

19.10.2010

Jürgen ErteltJürgen Ertelt
*1957, Sozial- und Medienpädagoge, arbeitet als Koordinator im Projekt Jugend online bei IJAB, Fachstelle für internationale Jugendarbeit, in Bonn. Dort ist er u.a. für das Netzwerk netzcheckers.net verantwortlich.
Als Webarchitekt und Autor entwirft er Community-Software für die pädagogische Arbeit. Zur Zeit arbeitet er an Angeboten im Bereich mobiles Lernen mit digitalen Medien. Jürgen Ertelt ist seit mehr als 25 Jahren medienpädagogisch aktiv. Er war u.a. in den Projekten „Konnekt“ der Akademie Remscheid und „Webmobil“ des JFC Medienzentrums Köln tätig. Er ist Mitglied in der GMK und im Trägerverein des JFF, medienpolitisch engagiert er sich in der Piratenpartei.
Jürgen Ertelt ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Medien und Erziehung, weitere Veröffentlichungen finden sich u.a. beim Kopaed-Verlag.

Kontakt:
http://ertelt.info
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Juergen@Ertelt.info

Die Entwicklung des Internet ist manchmal schneller als die Analyse derjernigen, die versuchen sie zu verstehen. Was gestern noch gemutmaßt wurde, ist heute schon Realität - oder auch nicht. Dennoch zwingt die schnelle Entwicklung zur Positionierung. Das gilt auch für die Medienpädagogik. Jürgen Ertelt, Projektkoordinator bei Jugend online, versucht es. 

Der Schwarm

Das im Duden aufgenommene Web2.0 ist Mainstream. Soziale Netzwerke wie SchuelerVZ oder facebook sind der Treffpunkt der Kommunikation für digital natives, digital residents, digital visitors und auch digital naive. Das Internet entwickelt sich zum Leitmedium, dessen Verzicht unvorstellbar wird, sagen diverse Studien. Aber, eigentlich ist es kein Medium sondern eine elektrifizierende Durchdringung der Gesellschaft auf deren Struktur verschiedene mediale Dienste aufsetzen, die unterschiedliche Bedarfe bedienen. Es wird in verschiedenen Publikationen beklagt, dass das Web kaum aktiv beteiligend genutzt wird. Man leitet diese vorgebliche Erkenntnis u.a. von nicht selbst erstellten Wikipedia-Einträgen oder von einer beobachteten Generation “no blog” ab. Vernachlässigt und verkannt wird das mobilisierende Potenzial der Schwarm-Kommunikation wie es in den social networks und beim Informationsdienst twitter.com auftritt und in der Summe als aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs gewertet werden muss. Der einzelne im Schwarm findet über die Verzweigung der Netzwerke Meinungen, Links und Gleichgesinnte zu Themen, die ihn betreffen oder betroffen machen. Es ist so leicht möglich sich zu solidarisieren und zu organisieren. Das zeichnete sich bereits 2009 bei der “Zensursula”-Auseinandersetzung um sog. Netzsperren ab und bestätigte sich deutlich an den studentischen Streiks in Wien und anderswo bei “Uni brennt”. Die “Zensursula”-Offensive im Netz führte zum operativen Aussetzen des Zugangserschwernisgesetzes, unibrennt.at erhielt in 2010 einen Prix Ars Electronica für seine Community-Arbeit.
Wirkung hat die Ansage “Ihr werdet euch noch wünschen wir wären politikverdrossen” des Twitter-Nutzers 343max. Alle im Bundestag vertretenen Parteien beeilen sich heute Profil in Sachen “Netzpolitik” zu gewinnen - auch um die Piratenpartei klein zu halten.

Selfempowerment ohne zu fragen

Die interagierenden Dienste im Internet können heute zum Ventil verpasster Beteiligung und vernachlässigter Transparenz werden. In der aktuellen Auseinandersetzung um den neuen Bahnhof “Stuttgart 21” im Herbst 2010 stellen Bürger initiativ eine dokumentierende Öffentlichkeit her, die nicht mehr als „Gegenöffentlichkeit“ relativiert werden kann. Nicht Fernsehen und Tageszeitungen bestimmen die Agenda sondern Netz basierte mobile Dienste wie Web-TV-Livesteams und ein Twitter-Gewitter um den Suchbegriff #S21 laufen der Berichterstattung und deren Diskussion voran. Der Widerstand organisiert in verschiedenen Blogs, die zur Demonstration aufrufenden Initiativen und bringt über Hunderttausend Menschen auf die Straße. Es sind “Normalos” die protestieren und kein angereister “schwarzer Block”, die aufgestandenen Menschen sind Schwaben und nicht Berliner. Wer hätte gedacht, dass eine Revolution ausgerechnet in Stuttgart beginnt? Das Netz funktioniert unabhängig von Ort und Zeit. Dieser Allgemeinplatz wird jetzt tragend.
Bei “Stuttgart 21” geht es nicht mehr um das Versenken eines Kopfbahnhofs. Hier wird die Undurchsichtigkeit politisch-wirtschaftlicher Interessen, die die artikulierten Bedürfnisse der Bevölkerung missachten, angeklagt. Menschen fordern eine ernst gemeinte Beteiligung an Entscheidungen jenseits der repräsentativen Demokratie ein. Das bestätigen Befragungen des Verbandes Bitkom mit Datum vom März 2010, die einen achtzig prozentigen Wunsch der Online-Beteiligung an kommunalen Entscheidungen ausmachen. Die Tagesschau attestiert in ihrer Deutschlandtrend-Erhebung vom Oktober 2010 mit über neunzig Prozent Zustimmung der Politik mehr notwendige Volksnähe und unterstreicht mit gleich hohen Zahlen die Wichtigkeit öffentlicher Darlegung von Meinungen. 

twazzup 

Manifeste und Dialoge

Mittlerweile gibt es eine vom Bundestag einberufene Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, die mit Parteien-Vertretern und Sachverständigen besetzt ist. Auch eine Beteiligung von außen via Internet-Forum ist vorgesehen und erwünscht. Hier soll der sog. 18. Sachverständige seine Standpunkte einbringen. Themen sind dort vorerst Netzneutralität, Urheberrecht, Datenschutz/Persönlichkeitsrechte und nunmehr auch Medienkompetenz. Die Enquete-Kommission hat sich in Arbeitsgruppen organisiert und versucht in hohem Maß öffentlich zu agieren.
Parallel hierzu gibt es weitere Arbeitskreise und Konsultationen mit der sog. Netzcommunity. Besonders das Innenministerium bemühte sich weniger beratungsresistent zu sein und sammelte über einen „Runden Tisch“ hinaus auch über eine Webseite gefilterte Positionen ein. In der Folge wurde sichtbar, dass reale Politik und Arbeitskreise nicht kongruent sind. Die Bezeichnung „Kaffeekränzchen“ für die Versammlungstermine kritisierte diesen absehbaren Umstand. Ein in der Folge erstelltes Internet-Manifest des Innenministeriums wurde mit Manifesten des Chaos Computer Clubs, der Piratenpartei und einigen privaten Geboten beantwortet. Ein nachhaltige gemeinsame Kommunikationsebene konnte leider nicht gefunden werden. Erwartet werden valide Informationen und ernst gemeinte Beteiligungswege in der verbindlichen Ausarbeitung von Entscheidungsvorlagen. Zumindest vom Vorsatz her möchte das Bundesjugendministerium in einen „Dialog Internet“ treten, der diesen Ansprüchen gerecht wird. So soll neben den eröffnenden Fachrunden eine gleichgewichtige Internet-Plattform, die verschiedene Quellen der Diskussion in einem öffentlichen Online-Nachrichtenraum abbildet, eine Transparenz des Prozesses gewährleisten und dadurch Beteiligung motivieren und vervielfältigen. Ein guter Weg um Partizipation als politisches Prinzip zu installieren.

Screenshot Enquete-Kommission

Medienwandel und Deutungshoheit

Der Prozess der (politischen) Meinungsbildung wurde bisher durch Zeitungen, Radio und Fernsehen in Gang gesetzt. Das hat sich geändert. Dienste im Internet aggregieren Nachrichten und Meinungen und Nutzer produzieren selber Standpunkte, die eine rasche Verbreitung finden. Der Medienwandel wurde spät erkannt und wird leider bis heute noch nicht mit veränderten Leistungen, sondern mit der Verteidigung alter Geschäftsmodelle beantwortet. So wird das Urheberrecht zum Schwert der Verleger um Terrain zu halten, das bereits vom Adressaten verlassen wird. Mit eingeforderten Leistungsschutzrechten und ACTA-Geheimverhandlungen ziehen die alten Medien in den Kampf gegen ein Netzwerk von Mühlen, die den Planeten mit einem medienkonvergenten Informationsstrom in Echtzeit versorgen.
Verwechselt wird beim Versuch das Rad der Geschichte zurückzudrehen das Medium mit der Arbeit des Journalisten. Die Chance, eine notwendige Instanz des Recherchieren, Zusammenfassen und Bewerten zu erneuern, wird nicht ergriffen. Journalismus im Wandel heißt heute gemeinsam mit bisherigen Empfängern interagierend Inhalte zu kommunizieren und Instrumente der Meinungsbildung und -aussendung bereitzustellen. Der Begriff des Datenjournalismus (data driven journalism) zeichnet sich ab. Gemeint ist das Bereitstellen des Recherchematerials und der Quellen im Kontext einer eigenen journalistischen Interpretation. „Wikileaks“ hat diesen Fluss der Informationen mit der Veröffentlichung von „geheimen“ Daten angestoßen, „Google Trends“ zeigt den Wert der Inhaltsbezeichnungen an. Die Deutung von Bedeutsamen muss sich der Zustimmung des Prosumenten versichern um Relevanz zu erfahren.

Kontrollverlust versus Kontrollgewinn

Immer wieder werden Ängste in Sachen Internet geschürt. Besonders publik wurde der im Buch „payback“ von Frank Schirrmacher dramatisierte fremdbestimmte „information overflow“, der in seinem Multitasking Körperverletzung sei. Eigentlicher Hintergrund dieser Projektion von Ängsten ist der befürchtete Kontrollverlust bei Nutzung des Netzes und seiner Angebote. Tatsächlich gibt es Konflikte in Daten- und Verbraucherschutz-Fragen und natürlich müssen wir Privatheit neu diskutieren. Kontakte im Netz verlangen Offenheit für Diskussionsanlässe - wer keine persönlichen Angaben und Beiträge eingibt, wird nicht beachtet. Neue Dienste für neue Mobiltelefone setzen auf Ort bezogene Angaben. Informationen und Netzwerke werden im Kontext eines Bewegungsprofils angeboten, der mobile Nutzer kann seine Erreichbarkeit permanent auf einer Karte dokumentieren. Furcht vor Kontrollverlust ist hier eher eine Frage der missbräuchlichen Nutzung der Daten durch Dritte und der notwendig zu stärkenden Kompetenz der Nutzer, Intimes vom Privaten in Abgrenzung zu persönlichen Informationen zu trennen.

Das Digitale kommt unaufhaltsam ins Analoge. Wenn wir nicht zu Google gehen, kommt Google zu uns. Die z.T. hysterisch geführte Debatte um den Dienst „google street view“ macht deutlich, dass eine Verweigerung gegenüber den digitalen Angebote nicht mehr möglich ist. Landkarten, Panoramafotografien und Bildbände werden ergänzt von digitalisierten Straßenansichten, die auch Fassaden perspektivisch anzeigen. Mehr ist es nicht, aber auch nicht weniger um den befürchteten Verlust der Kontrolle über den Blick auf den eigenen Vorgarten zu beklagen. Dabei war diese Kontrolle noch nie gegeben und andererseits wird im „street view“ anderer Städte gerne die neue Möglichkeit als Kontrollgewinn zur Überprüfung der Richtigkeit der Angaben zum gebuchten Urlaubshotel geschätzt.

Google street view als Werbung bei Sixt 

Es gibt einen gravierenden qualitativen Unterschied zwischen der Aufbereitung und Nutzung öffentlicher Daten und der Erfassung und Speicherung personenbezogener Verbindungsdaten der Kommunikation. Obwohl das Bundesverfassungsgericht die ersten Begehrlichkeiten der „Vorratsdatenspeicherung“ ausgebremst hat, droht hier tatsächlicher Kontrollverlust des Einzelnen durch staatlich verordnetes Datensammeln, das auch durch eine verniedlichende Umbenennung zur „Mindestaufzeichnungszeit“ an Erniedrigung nicht verliert.
Die Diskussionen um Einschränkungen von Freiheiten durch auf das Internet ausgerichtete verschärfte Kontrollmaßnahmen bildet sich ebenso in Bewertungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) ab. Konnte in der Vergangenheit diese Länder-Vereinbarung ohne weitere Kenntnisnahme der Öffentlichkeit passieren, ist sie heute durch die Aufnahme von Netz-Angeboten in die Medien-Regulierung ein Politikum. Die aus dem Verlust der Kontrolle über eine fälschlicherweise als einzelnes Medium verstandenes Internet resultiert. Neben Sendezeiten für Webseiten werden Markierungen für Filter bei zu vermutender Entwicklungsbeeinträchtigung faktisch verpflichtend. Zurecht werden in der Debatte diese Maßnahmen in die Nähe von Zensur-Infrastrukturen gebracht. Jugendschutz wird so zum gemeinsamen Thema für Freiheitsschützer und Medienpädagogen.

Grafik Bild-ZeitungKlassische Medien in der Allianz mit selbsternannten Hütern der Moral fordern populistisch mehr Kontrolle und schärfere Gesetze. Dabei entwickelt sich ihr Engagement nah an einen Feldzug der Inquisition zum „Tatort Internet“. Sexueller Missbrauch wird instrumentalisiert für das Einfordern von Freiheitsbeschneidungen im Internet zur Sicherung der Machtansprüche politischer Seilschaften. Statt auf Kompetenzen der betroffenen Nutzer zum Kontrollgewinn über bedrohliche Situationen wird vorsätzlich auf Placebos gesetzt, die erneut in Form von anzuzeigenden Stopp-Schildern daher kommen.

Die ethische Diskussion in diesem Zusammenhang muss ernst genommener Gegenstand der Medienkritik sein und darf nicht der Bild-Zeitung überlassen werden.

Führerscheine erleben als kontrollierbares Medienkompetenz-Vermittlungs-Zertifikat derzeit eine Renaissance. Besonders hinsichtlich der Zentralisierung von Maßnahmen in Ablösung von pädagogischen Modellen ist ein Kompetenz-“Netzpferdchen“ - in Anlehnung an Schwimmausweise – statt gewonnene Kontrolle eher ein Zeichen von Realitätsverlust der Kontroll-Verunsicherten.
Wer kompetent im Netz agieren soll, braucht Unterstützung die zur selbstbestimmten Aushandlung von Lebensentwürfen verhilft. Damit wird eine Kontrolle durch den Nutzer zur Wahrung demokratischer Netze gewonnen.

Deutscher Jugend-Internetpass

Erneuerung der Gesellschaft in und für mehr selbstbestimmte Freiheit durch Medien und Bildung

Dieser lange Zwischentitel summiert die Ziele einer Medienpädagogik im Internet-Zeitalter und ist gleichzeitig die Überschrift für ein Pflichtenheft, das Brechts Radiotheorie mit Baackes Medienkompetenz verknüpft.
Es geht um die Befähigung zum selbstbestimmten Handeln in und mit Medien und Internet-Diensten. Das bedeutet wesentlich mehr als ein persönliches Management der Netz-Reputation. Es greift in Institutionen und deren Hierarchien: Social Media wird zum Prozessor von gesellschaftlicher Entwicklung.
Medienpädagogik darf nicht zum Reparaturbetrieb des Jugendschutzes degradiert werden, vielmehr muss die zu stärkende Medienkompetenz auf eine digitale (Jugend-)Bildung erweitert werden. Eine handlungsorientierte Medien-Politik sollte Teil des Medienkompetenz-Begriffs werden und Partizipation zum Prinzip erklären. Politische Teilhabe kommt nicht von alleine, Mitmischen muss man lernen und muss motiviert werden. Hinzu kommen Informationen, die allen verfügbar sein müssen: Offene Daten (open data) und eine transparente gestaltbare Verwaltung (open government) sind eine Grundlage für ernst gemeinte Beteiligung. Die Chancen der vernetzenden Online-Dienste gilt es zu nutzen, überall und „location based“, kommunal an Ort und Stelle. Eine „liquid democracy“ , eine flüssige, interaktive, direkte Demokratie brauchen wir als Partizipations-Applikation für jeden Internetzugang.

liquid democracy

Zwei Forderungen sind abschließend für die Medienpädagogik zu stellen, um die neuen Potenziale zu realisieren und zu begleiten:

  • Internet muss frei und unkontrolliert bleiben für Innovationen und den Erhalt demokratischer Werte.
  • Medienpädagogik muss politischer werden um Zugang und Teilhabe zu sichern.

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Dieser Artikel steht unter einer CC-Lizenz und kann unter bestimmten Bedingungen frei verwendet werden: 
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

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