Digitalisierung und Medien

Interview: „Wir sollten uns nicht ganz ins Virtuelle zurückziehen“

Die Coronakrise hat die Arbeitswelt rasend schnell verändert: Homeoffice, Webmeetings und Hygienemaßnahmen gehören jetzt zum Alltag. Prof. Klaus Bengler vom Lehrstuhl für Ergonomie an der Technischen Universität München (TUM) untersucht, was wir aus diesen Erfahrungen lernen können.

08.07.2020

Herr Prof. Bengler, wo sehen Sie die größten Veränderungen und Probleme in der Arbeitswelt?

Aufgrund der Coronakrise ist es zu einer starken Zunahme der Arbeit im Homeoffice gekommen. Die schnelle Umstellung hat aber dazu geführt, dass bestimmte arbeitswissenschaftliche Grundsätze nicht beachtet werden konnten. Nicht jeder besitzt zuhause einen so gut ausgestatteten Arbeitsplatz wie im Büro, was etwa Beleuchtung, Tischhöhe oder eine ruhige Arbeitssituation angeht.

Insgesamt hat die Bildschirmarbeit zugenommen. Viele Wegezeiten zu Besprechungen oder an den Arbeitsplatz entfallen. Besprechungen, die früher eine Unterbrechung der Computerarbeit darstellten, werden nun per Webmeetings durchgeführt. Dadurch wird wertvolle Zeit gespart, andererseits häufig die Bildschirmarbeit verdichtet. Das bedeutet, es liegt viel mehr Eigenverantwortung bei den Mitarbeitern, sich selbst zu organisieren, Arbeitspausen einzulegen und ihren Arbeitsplatz zu optimieren.

Dazu kommen andere Probleme, etwa, dass zum Teil die Kinderbetreuung nicht geregelt ist, was zu starken Belastungen führt. Bei der Arbeit in der Produktion, Pflege oder Nahrungsmittelerzeugung, die ortsgebunden ist, hat die Einhaltung der Hygienemaßnahmen für noch mehr zeitintensive Arbeit gesorgt. Das bedeutet, das ganze System, das ohnehin schon unter Zeitdruck steht, wurde gebremst.

Wurde die digitale Transformation beschleunigt?

Die Krise hat einen extrem verstärkenden Effekt. Unternehmen, in denen mobiles Arbeiten und Telearbeit bereits möglich waren, konnten dies stärker ausbauen. Die Regelungen und die technische Ausrüstung sind vorhanden und es gibt Wissensträger, die anderen helfen können. Es gab aber auch sehr negative Verstärkungen. Unternehmen, die mit diesen Tools überhaupt noch nicht vertraut waren, hatten eine härtere Anlaufkurve oder sogar einen Einbruch.

Diese Unternehmen sollten die Möglichkeit bekommen, so schnell wie möglich von den anderen zu lernen. Dabei gibt es punktuell über alle Wirtschaftssektoren verteilt Best Practices, hier kann man nicht verallgemeinern. Die Landwirte etwa sind teilweise besser vernetzt als manche Dienstleistungsunternehmen. Von diesen Erfahrungen sollten wir so schnell wie möglich lernen. Das ist auch das Ziel unseres vom Bund geförderten Projekts „Gute Lösungen für die Zukunft nutzen – COVID-19 Lessons Learned“.

Wie wollen Sie diese Erfahrungen zusammentragen?

Wir werden abgestimmt mit Partnern an der RWTH Aachen und der TU Dresden überregional Befragungen darüber durchführen, wie die Arbeitssituation vorher war, wie der Umstellungsprozess abgelaufen ist und wie die Situation jetzt aussieht. Welche Practices haben sich bewährt, welche Vereinbarungen wurden getroffen, waren temporär oder werden jetzt verstetigt? Krisen lösen Änderungsprozesse und Lernprozesse aus. Wir wollen auch verdeutlichen, wo Unternehmen unterschiedlicher Branchen voneinander lernen können, etwa könnte die Fernüberwachung bei der Wartung vermehrt eingesetzt werden oder die Durchführung von Webmeetings physische Treffen ersetzen. Ebenfalls geht es um Ansätze, die langfristig helfen, die Zeit- und Raumprobleme in vielen Homeoffices zu lösen.

Aber ein sehr wichtiger Punkt ist auch, dass geprüft wird, ob diese Maßnahmen auch zukünftig sinnvoll für eine gute Arbeitssituation sind. Ich glaube nicht, dass wir uns dauerhaft ins Virtuelle verabschieden sollten oder können. Das Netzwerk zwischen den beteiligten Menschen würde dadurch immer schwächer werden. Ziel ist es, dass wir Empfehlungen geben können, wie man derartige Transformationsprozesse durchführt und sich organisatorisch auch wieder zum Teil in einen neuen eingeschwungenen Zustand bewegen kann, bei dem sich dann die derzeitigen Einschränkungen weiter gelockert haben.

Quelle: Technische Universität München vom 29.06.2020

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