Jugendforschung

Interview: Das flüchtige Konsumglück und die heimliche Sinnkrise einer Generation.

Bernhard Heinzlmaier

"Woran es liegt, dass der einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht." Das Interview mit Bernhard Heinzlmaier führte Anna Sophia Hofmeister für die Tagespost - Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur (Würzburg).

14.08.2013

Smartphone-Dauernutzung, Facebook, Online-Shopping: Hauptsache Internet und die Jugendlichen von heute sind zufrieden?

Ich denke nicht, dass neue Kommunikationsmittel Zufriedenheit erzeugen. Zufriedenheit entsteht aus Sinnerfahrungen und Quelle von Sinn sind in erster Linie Gemeinschaften, das Verbundensein mit anderen und das Gefühl, andere zu verstehen und auch von diesen verstanden zu werden. Die neuen Kommunikationsmittel erzeugen Schwärme, lose verbundene Netzwerke von Egos. Das sind keine Gemeinschaften, in denen der einzelne aufgeht und sich aufgehoben fühlt. Die Online-Beziehungen bleiben oberflächlich, sie akzentuieren das Ego, nicht die Gemeinschaft.

Fehlt der Jugend der Sinn für echte Gemeinschaft?

Wahrscheinlich ja, weil sie ihn ja nirgendwo mehr lernen. Sie lernen genau das Gegenteil: Dass es besser sei, auf den eigenen Vorteil zu achten. Deshalb denken die jungen Leute nicht mehr in Gemeinschaftskategorien. Und wenn sie das doch tun, so geht es ihnen um Gemeinschaften, die ihren persönlichen Vorteil befördern.

Anhand welcher Situation haben Sie persönlich feststellen müssen, dass die neuen Medien nicht mehr nur Fortschritt bedeuten, sondern ganze Leben junger Menschen überformen?

Man sieht es doch im Alltag. Die Menschen starren unentwegt in ihre Smartphones, nicht die Realität um sie herum hat Priorität, sondern die virtuelle Welt des Scheins auf ihren Miniaturbildschirmen. Der Bildschirm ist heute die Wirklichkeit, nicht die Realität des gegenständlichen Lebens.

Aber warum lässt die Sogwirkung der neuen Medien nicht nach?

In erster Line wohl deshalb, weil sie immer verfügbar sind, weil man einschaltet und sofort loslegen kann, weil Beziehungen ohne Vorleistungen, Verbindlichkeiten spontan geknüpft und entbunden werden können, weil man von einem Kontakt zum anderen relativ unverbindlich flanieren kann und weil man die Möglichkeit hat, eine Rolle zu spielen, das eigene Selbst so formen und inszenieren kann, dass es dem eigenen Vorteil dient. Das Internet ist die Bühne für ein Schauspiel, für das Spiel mit Masken, Kostümen, Identitäten.

Ist es das, was die jungen Menschen wollen?

Was sie wirklich wollen, ist ihnen wahrscheinlich nicht klar. Das, was der Mensch braucht, was er wirklich will, ist alles verschüttet. In gewisser Weise wollen sie sich deshalb gerne darstellen, weil sie gelernt haben, das zu wollen. Selbstdarstellung, Selbstinszenierung, Rollenspiel, jeden Tag eine andere Identität... Durch die täglichen Theaterspiele haben sich die Leute schon selbst verloren.

Viele finden aber gerade diese spannend...

Vieles, was anfangs spannend ist, stellt sich am Ende als sinnlos und unerfüllend heraus. Wir leben in einer Welt, die uns Dauerspannung verspricht. Das gute Leben ist das spannende Leben, das spektakuläre Leben. Das wird uns vermittelt. Ganz offensichtlich kommen wir damit aber nicht zur Erfüllung, zum Sinn des Lebens. Wir kommen so eher in einen Zustand der totalen Erschöpfung, in die Depression. Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit. In einer spannenden Zeit und auf der anderen Seite in einer erschöpften Zeit, in der wir unseren Kindern Psychopharmaka geben müssen, damit sie den Schulstress noch bewältigen, in der immer mehr Menschen in Psychotherapie gehen müssen, um ihren Arbeitsalltag zu ertragen. Das muss hinterfragt werden, ob das am Ende Sinn macht.

Jugendliche definieren sich inzwischen überwiegend über ihren Konsum. Welche Folgen hat dies für ihre politische Wahrnehmung, ihr Weltbild, ihre Erwartungen?

Wer sich über den Konsum definiert, ist ständig auf den Markt verwiesen. Er denkt nur mehr in Tauschbeziehungen. Geld gegen Ware, darum geht es dem Konsum-Menschen. Ist der Konsum die zentrale Sinnquelle, dann ist der Sinn kommerzialisiert, zur Tauschware geworden. Aber der Markt kann das Sinnbedürfnis nur zum Schein oder höchst flüchtig befriedigen. Schnell sind die kommerziellen Waren als Sinnquelle entwertet und es muss ein neues Objekt her. Die  beschleunigte Entwertung der Waren ist die wichtigste Quelle des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Mit welchen Folgen?

Das, was gut für die Marktwirtschaft, für die Marktgesellschaft ist, muss noch lange nicht gut für den Einzelnen sein. Wenn der Markt davon profitiert, dass die Bedürfnisse immer schneller wechseln und dass die Güter, die der Bedürfnisbefriedigung dienen, immer schneller entwertet und durch neue Angebote ersetzt werden, bedeutet das für den Einzelnen die tägliche Jagd nach dem Glück. Die aber gleichzeitig zu keinem Abschluss kommen kann: Weil der Glücksgegenstand, den man erwirbt, bereits im Moment des Erwerbens wieder wertlos wird, weil schon wieder das nächst höhere Glücksversprechen angeboten wird. Der Markt profitiert davon; der Mensch wird davon in die Erschöpfung getrieben und findet eben nicht das Glück. Denn der Mensch sucht ein Glück, das von Dauer ist. Das flüchtige Glück ist schön, aber es kann nicht unser Lebensglück sein.

Der ständige Kreislauf von Wunscherfüllung, neuen Begehrlichkeiten und die davon abhängig gemachte Wertschätzung: Züchtet der Egoisten?

Der Egoismus ist Folge einer entgrenzten Individualisierung. Der Neoliberalismus ist die Religion des Individualismus. Das Individuum wird verehrt und es verehrt sich selbst. Zum Individuum wird man durch Konsum. Durch Konsumgüter wird der standardisierte Individualismus der Postmoderne ausgestaltet. Das Ergebnis ist, frei nach Adorno, viel Gerede über Individualismus und kaum mehr vorhandene Individuen.

Das alte humanistische Ideal von Bildung als Persönlichkeitsbildung gilt nicht mehr als relevant. Trotzdem sollen im heutigen Sinne erfolgreiche Menschen immer „Persönlichkeit“ zeigen. Was unterscheidet die neue Vorstellung von „Persönlichkeit“ von der alten?

Die neuen Persönlichkeiten sind nicht individuell, sondern standardisiert. Sie haben sich an den engen Rollenvorgaben auszurichten, die in den Bildungseinrichtungen und mit Hilfe der medienvermittelten hegemonialen Diskurse eingeübt werden. Die Menschen denken alle gleich, sehen alle gleich aus, sprechen im gleichen Jargon. Im Prinzip ist die postmoderne Persönlichkeit die Auslöschung des Indiviuums.

„Performer, Styler, Egoisten: Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben“ lautet der Titel Ihres neuesten Buches. Was haben die Alten da bei den Jungen falsch gemacht?

Die Alten haben sich an die Notwendigkeiten des Systems angepasst, sie haben ihren Egozentrismus voll ausgelebt und ihr schlechtes Beispiel auf die Jugend übertragen. Und sie haben ein System geschaffen, in dem man Anerkennung und Erfolg primär für Anpassungsleistungen bekommt. Bildungsinstitutionen und Konsumismus haben den Typus des Rebellen ausgemerzt und an seine Stelle die fröhlichen Konformisten gesetzt.

Es steckt also ein System dahinter, das gezielt geschaffen wurde?

Ich glaube nicht, dass da irgendetwas bewusst geschaffen worden ist. Das Monströse, das wir heute vorfinden, ist natürlich das Ergebnis von ganz unterschiedlichen Interventionen, Handlungen und Intentionen. Die ältere Generation hat aber die Verantwortung dafür zu übernehmen, aufgrund dessen, dass sie bestimmte politische Entscheidungen getroffen hat. Zum Beispiel der Beitritt zur Europäischen Union, die nach dem Prinzip, immer mehr Freiheit für den Markt und weniger Freiheit für das Individuum, läuft. Oder das Bekenntnis zur Globalisierung des Marktes, die PISA-Politik, unsere Bildungspolitik, das alles sind politische Entscheidungen, die zur Beschleunigung und Entfremdung des menschlichen Lebens geführt haben. Und zur Ökonomisierung des Sozialen. Das ist das, worunter wir heute leiden und wofür von der älteren Generation die Verantwortung übernommen werden muss: Die europäische Politik richtet sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an den Bedürfnissen der Märkte aus. Wenn man denkt, dass die Bedürfnisse des Menschen identisch mit denen der Märkte sind, dann ist das natürlich nichts Falsches, das meinen ja die Neoliberalen. Aber es gibt eine signifikante Differenz zwischen den Marktbedürfnissen und den Bedürfnissen des Einzelnen. Die wird aber ausgemerzt. Und so bleibt der einzige Wert, der heute zählt, der ökonomische Wert, und das ist letztendlich der Preis. Das heißt, die Dinge haben den Wert  den sie in Geld ausgedrückt darstellen können - das heißt es geht immer um die  Quantität, um das Zählbare, und nicht die Qualität.

Erfolg wird an Zahlen gemessen, Ökonomisierung zahlt sich aus. Und die gegenwärtige Schulbildung, angefangen mit frühkindlicher Förderung, fördert das?

Die Ökonomisierung macht alles gleich gültig, alles lässt sich mit allen in Beziehung setzen. Die Warenform führt zu Dominanz der Quantität über die Qualität. Und zudem wird jede Handlung auf ihre Nützlichkeit hin befragt. Man darf sich nicht mehr an einem Text aus der Literatur freuen. Wer ihn liest, muss begründen können, was das Lesen dieses Textes für einen ökonomischen Nutzen hat, für einen Qualifizierungsnutzen. Alles Denken und Handeln muss sich also auf den Markt richten. So ist der Mensch zu dem geworden, womit er sein ganzes Leben verbringt, zur Ware.

Was verpasst diese Jugend so eigentlich? Welche Ideale sind ihr verloren gegangen?

Die Jugend verpasst das Gefühl, wie es ist, ein autonomes Individuum zu sein, ein Individuum, das sich die Welt kritisch aneignet, seine eigenen Schlüsse zieht und sich diesen entsprechend verhält. Sie verpasst die Erfahrung, wie es ist, kein Sklave der Verhältnisse zu sein.

Die Politik argumentiert hier mit Gleichheit: Gleiche Bildung für alle für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie sehen das anders?

Es ist eine Illusion, wenn man glaubt, die Gesellschaft durch Ausbildung gerechter machen zu können. Wenn alle gleich gut ausgebildet sind, dann werden andere Merkmale und Kompetenzen zur Austragung des Konkurrenzkampfes herangezogen. Wie wir heute sehen, verlagert sich dann der Wettbewerb auf die Kommunikation und die Ästhetik. Es gewinnt dann der, der sich besser verkaufen kann. Darüber hinaus ist auch die Frage zu stellen, ob wir noch mehr Standardisierung haben wollen, ob es uns recht ist, wenn jegliche Differenz verwischt wird. Es ist nichts gegen Gerechtigkeit einzuwenden, aber sehr viel gegen die Standardisierung der Individuen, der Homogenisierung ihrer Persönlichkeit.

Doch Eltern sind auch bereit, Unsummen an Geld in exklusive Ausbildungsangebote zu „investieren“, um die Chancen ihres Nachwuchses auf beruflichen Erfolg zu erhöhen. In Samstagsschulen lernen dann zweijährige Kinder in Kleingruppen auf Englisch, welches Puppenkleid in der Herstellung teurer war: die Führungspersönlichkeiten von morgen?

Die Eltern müssen mitspielen, wenn sie für ihre Kinder das Beste wollen. Es lastet ein moralischer Druck auf Ihnen, die Kinder so zu erziehen, wie es PISA und die OECD von ihnen verlangen. Die Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, vernichten sie aber dabei.

Vieles, was Sie beschreiben, klingt äußerst pessimistisch. Ist schon alles verloren?

Ich sehe es wie die Jugend. Die meinen, dass sie ihre individuellen Ziele erreichen werden, die Gesellschaft aber eher ins Negative kippen wird. Also für den einzelnen ist nicht alles verloren, wenn er sich in der Alternative vergemeinschaftet und den eigenen Weg mit Gleichgesinnten sucht und geht.

Ist es das, was Eltern tun können, die dem gesellschaftlichen Druck nicht nachgeben wollen?

Ja, man muss sich entziehen, alternative Lebensformen in Gemeinschaft mit anderen entwickeln, alternative Kindergärten initiieren, alternative Schulen. Das Glück liegt heute mehr denn je außerhalb des Systems. Es gibt tatsächliche ein Leben außerhalb des Mainstreams. Man muss sich nur bemühen, den Weg dorthin zu finden. Denn alleine kann man nicht anders sein. Man braucht Gleichgesinnte. Ohne Gemeinschaftsbildung kann man den Druck nicht bestehen. Alternative Wohnformen, gemeinsames Wohnen, gemeinsames Arbeiten, gemeinsame Kindererziehung,... es geht darum, die Vereinzelung aufzuheben. Die Stärke des Systems liegt darin, dass es die Menschen vereinzelt, dass es sie voneinander trennt, sie zu Ego-Wesen macht. Überall dort, wo man im Alltag gegen diese Vereinzelung vorgeht, überall dort schwächt man das System. Überall dort ist man weniger abhängig vom Markt. Wo man sich gegenseitig hilft, muss man nicht jede Kleinigkeit über Dienstleistungen geregelt bekommen. Die Lösung ist mehr Mitmenschlichkeit. Mehr gegenseitige Solidarität. Wenn solche kleinen Zellen, die anders und unabhängig funktionieren immer mehr werden, kann eine neue Qualität daraus entstehen.

Wie trägt sich diese Maxime in Ihrem Institut für Jugendforschung, das Sie mitbegründet haben?

Wir haben das Institut gegründet, um in einer alternativen Gemeinschaft so arbeiten zu können, wie wir das wollen. Wir konnten uns dadurch weitgehend dem Wahnsinn dieser Zeit entziehen.

Inwiefern?

Wir sind Leute, die seit fast 20 Jahren gemeinsam arbeiten, die über das Berufsleben hinaus privat eng miteinander verbunden sind. Wir versuchen unsere Arbeit so zu organisieren, dass wir nicht von ihr aufgefressen werden. Dass persönliche Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt werden. Wenn ein Kollege von mir etwa spät nachts arbeiten will, wird ihn  niemand dazu zwingen, gegen seinen Rhythmus tätig zu sein. Die Firma sollte uns dienen und nicht wir der Firma. Am Ende sind wir so vielleicht sogar produktiver - mit Sicherheit aber zufriedener.

Bernhard Heinzlmaier ist seit über zwei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig. Er ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung und seit 2003 ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg.
Kontakt: bheinzlmaier@jugendkultur.at

Der im Jahr 2007 in Hamburg gegründete Verein jugendkulturforschung.de e.V. ist auf praxisorientierte nicht-kommerzielle Jugendforschung spezialisiert.
Kontakt: office@jugendkulturforschung.de

Quelle: jugendkulturforschung.de e.V. vom 09.08.2013

Redaktion: Astrid Bache

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