Digitalisierung und Medien

Bring dein eigenes Endgerät mit – Eine Modellschule in Japan geht neue Wege

Herr Tokutake arbeitet an seiner Schule mit dem Ansatz 'Bring Your Own Device'.

Handynutzung in der Schule ist in Deutschland verpönt. In einer Projektschule in Tokio werden Schülerinnen und Schüler hingegen aufgefordert, Smartphone, Tablet oder Laptop in den Unterricht mitzubringen und als Lernmedium zu nutzen. Als Japans Schulen wegen der Corona-Pandemie schlossen, hat sich das als Vorteil erwiesen. Im Interview spricht IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit darüber mit dem Lehrer Hideto Tokutake.

20.07.2020

Hideto Tokutake arbeitet als Lehrer an einer Projektschule in Tokio, die mit dem Bring Your Own Device-Ansatz. Im Interview stellt er seine Arbeit vor und berichtet zu seinen Erfahrungen mit dem Ansatz – und auch, was es heißt an einer solchen Schule zu arbeiten, wenn die Jugendlichen nicht mehr zu Schule kommen können und Homeschooling auf dem Programm steht. Herr Tokutake hat letztes Jahr am Deutsch-Japanischen Studienprogramm in Deutschland teilgenommen. Die medienpädagogische Jugendarbeit in Deutschland hat ihn dabei sehr für seine eigene Arbeit inspiriert.

Vielfältige Aufgaben eines Lehrers

Herr Tokutake, bitte beschreiben Sie für die deutschen Leserinnen und Leser Ihre Arbeit an der Minamitama Mittelschule.

Ich habe verschiedene Aufgaben an meiner Schule, die ich kurz skizzieren will. Ich bin Lehrer für Erdkunde, Geschichte und Bürgerkunde. Ich unterrichte vor allem Oberstufenschüler der dritten Klasse hauptsächlich in Politik, Wirtschaft und Ethik. Je nach Schuljahr bin ich auch für Weltgeschichte zuständig.

Außerdem bin ich Leiter der Studien- und Berufsberatung. Die meisten unserer Schülerinnen und Schüler wollen später auf die Universität gehen. Deshalb haben wir von der ersten Klasse – 12 Jahre – bis zur sechsten Klasse – 18 Jahre – einen Plan für Karrieretraining aufgestellt. Ich bin hauptsächlich für das Karrieretraining der Oberstufe zuständig, das heißt ich berate Schülerinnen und Schüler zu Universitätsbesuchen oder zur Vorstellung bei Universitätsprofessoren, zu Prüfungssimulationen oder leite sie bei der Teilnahme an der Aufnahmeprüfung an einer Universität an. Ich stehe der insgesamt sechsköpfigen Abteilung, die mit diesen Aufgaben betreut ist, vor.

Als Teil der Schulverwaltung nehmen wir auch an Sitzungen mit dem Schulleiter und dem stellvertretenden Schulleiter teil, in denen wir die Bildungsaktivitäten der gesamten Schule verwalten.

Für die Aufnahmeprüfungen an der Universität nehmen die meisten japanischen Studentinnen und Studenten im Januar und Februar an schulischen Leistungstests teil; daher ist es besonders wichtig, sie in Bezug auf die Verbesserung ihrer akademischen Leistung oder die Wahl der Universität und der Fakultät zu beraten. Insgesamt gibt es 780 private und öffentliche Universitäten. Es gibt jedoch große Unterschiede bezüglich der Bildungsqualität und des Leistungsniveaus. Außerdem ist das System für die Aufnahmeprüfungen an Universitäten sehr kompliziert, weshalb es viel Zeit und Mühe braucht, den Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, eine Universität auszuwählen. Ich denke, der Wechsel auf eine Universität vollzieht sich in Deutschland ganz anders.

Modellschule mit Internationalen Kontakten

Vor zwei Jahren hat das die lokale Schulbehörde von Tokio, Tokyo Metropolitan Board of Education, unsere Schule zu einer Modellschule für „Smart School zur Erforschung und Konzeption des Bring Your Own Device-Ansatzes“ erklärt. Wir haben in der Schule ein WLAN-Umfeld eingerichtet und Konzepte für Bildungsaktivitäten entwickelt und implementiert, bei denen die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Endgerät mitbringen und einsetzen. Das ist es, was wir mit Bring Your Own Device meinen. In mein Aufgabenfeld fällt das Projektmanagement innerhalb der Schule, die Weitergabe von Informationen an Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler, die Bereitstellung von Informationen und Schulungsmöglichkeiten für Bildung mit Informations- und Kommunikationstechnologien, das Erstellen von Berichten zur Bildungspraxis und die Teilnahme an externen Konferenzen und Sitzungen.

2019 sind wir vom Bildungsministerium  zur Projektschule für das World Wide Learning Konsortium ernannt worden. In diesem Projekt arbeiten wir mit externen – auch ausländischen – Institutionen wie Universitäten, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Für die Schülerinnen und Schüler soll dadurch die Qualität ihrer Forschungsaktivitäten und die Möglichkeiten internationaler Kommunikation und Austausch gefördert werden. Ziel ist es, „innovative global human resources“ heranzuziehen.

Neben der Verwaltung des Projekts bin ich auch für die Kooperation mit den Universitäten, die Entwicklung von Studienbesuchen im Ausland, die Beratung von Schülerinnen und Schülern zu ihren Möglichkeiten und von Lehrerinnen und Lehrern zur Fort- und Weiterbildung zuständig. Als Teil dieses Projektes habe ich letztes Jahr Deutschland besucht.

Wir unternehmen auch Exkursionen zu Universitäten und Unternehmen oder Studienbesuche nach Vietnam und nehmen an verschiedenen Konferenzen teil. All dies macht einen großen Arbeitsanteil in meinem Job aus.

Sie arbeiten an Ihrer Schule mit dem Bring Your Own Device-Ansatz. Bitte erklären Sie uns, wie Sie diesen Ansatz in Ihrer Schule nutzen.

Im Gegensatz zu Deutschland, hat Japan eine gut entwickelte Bildungsindustrie, in der viele private Unternehmen Bildungsangebote im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien anbieten. An unserer Schule arbeiten wir beispielsweise mit einem Cloud Service, der sich „Classi“ nennt – von dem gleichnamigen Start-Up Classi. Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler laden sich die App auf ihre PCs, Tablets oder Smartphones, und nutzen sie für ihre Bildungsaktivitäten.

Hauptsächlich genutzt wird es für die Sammlung von Meinungen, zur Gruppenarbeit, Recherche im Internet, für Videostreaming, Umfragen, die Verteilung von Tests und Übungen, die Kommunikation in Gruppen oder um extern von Studenten Hinweise und Ratschläge zu ihren Forschungsaktivitäten zu bekommen.
Bildung wird mit dem Smartphone effizienter

Was können Sie den deutschen Fachkräften über die Vorteile dieses Ansatzes erzählen?

Da die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Smartphones und Tablets benutzen, können mediengestützte Bildungsangebote sichergestellt werden ohne zusätzliche Kosten für die Schule oder die Verwaltung zu verursachen.
Sie können zu jeder Zeit im Unterricht über ihre eigenen Geräte auf das Internet zugreifen und die Cloud benutzen, Internetrecherchen durchführen oder Videos ansehen. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen nicht im Vorhinein PCs oder Tablets vorbereiten.

Außerhalb des Unterrichts oder auch von zu Hause aus können die Schülerinnen und Schüler über ihr eigenes Gerät auf den Cloud Service zugreifen und einfach ihre Hausaufgaben und Übungsaufgaben einreichen. Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler können jederzeit untereinander darüber in Kontakt treten. Zusätzlich können sie zeitlich und räumlich unabhängig Tests und Übungen durchführen oder Lernvideos gucken.

Der Zeitaufwand bei der Verteilung, Einsammlung und Auswertung von Tests und Umfragen entfällt, wodurch Bildungsaktivitäten effizient in einer kürzeren Zeit durchgeführt werden können. Dies mindert möglicherweise auch die Belastung auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer.

Es bleibt weiterhin eine Herausforderung, die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu beurteilen. Wir denken jedoch, dass sie über den Bring Your Own Device-Ansatz ihre Denkfähigkeit und ihr Urteilsvermögen steigern können. Außerdem glaube ich, dass sich ihre metakognitiven Fähigkeiten sowie ihr Lerneifer erhöhen, wenn sie auf diese Weise über den Unterricht und die Bildungsaktivitäten reflektieren können.
Lernziele verschieben sich

Unter Lernfähigkeit versteht man nach der Definition des Bildungsministeriums Folgendes:

  1. Wissen und Verständnis
  2. Denkfähigkeit, Urteilsvermögen und Ausdruckskraft
  3. der Wille, mit vielfältigen Menschen zu lernen

In Japan wurde traditionell ein Fokus auf „Wissen und Verständnis“ gelegt. Mit der voranschreitenden Globalisierung und u.a. den Entwicklungen im Bereich von Wissenschaft und Technologie – Künstliche Intelligenz und Internet der Dinge – wird in der zukünftigen Gesellschaft – Stichworte „Society 5.0“ und „Industry 4.0“ – jedoch ein stärkerer Fokus auf die „Denkfähigkeit, Urteilsvermögen und Ausdruckskraft“ sowie „den Willen mit vielfältigen Menschen zu lernen“ gelegt werden. Daher werden für die Schulbildung Unterrichtseinheiten empfohlen, die sich auf diese beiden Aspekte fokussieren –  in Übereinstimmung mit dem Konzept „Learning Compass 2030“ der OECD. In diesem Zusammenhang steht auch die Förderung der Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien, wie beispielsweise beim Bring Your Own Device-Ansatz.

Und wo sehen Sie die Nachteile dieses Ansatzes?

Da die Schülerinnen und Schüler sich mit ihrem eigenen Endgerät in das WLAN der Schule einloggen können, nutzen sie diese gegebenenfalls auch außerhalb von Lernkontexten. So erhöht sich auch die Nutzungsdauer.

Da nicht alle ein Smartphone haben, können hier Ungleichheiten entstehen. Es kostet auch Zeit und Mühe, einen PC oder ein Tablet für Schülerinnen und Schüler ohne Smartphone vorzubereiten.

Obwohl wir an unserer Schule das Bring Your Own Device-Konzept zur Nutzung auf dem Smartphone fördern, stellt es möglicherweise ein Problem im Unterricht dar, da der Bildschirm sehr klein ist, um beispielsweise Kanji zu schreiben, Videos zu gucken oder Präsentationsmaterialien vorzubereiten. Daher benutzen wir je nach Unterrichtsform neben den Smartphones auch Laptops. Zusätzlich können auch digitale Schulbücher benutzt werden.

Auch wenn dies für unsere Schule so gut wie nie zutrifft, besteht die Möglichkeit, dass das Smartphone zu Problemen führt. Beispiele: der Diebstahl des Smartphones oder dessen Inhalte  –  Fotos oder Videoaufnahmen , die über die Sozialen Netzwerke verbreitet werden, sowie der Abfluss persönlicher Daten.

Mehraufwand für Lehrerinnen und Lehrer

Japanische Lehrerinnen und Lehrer haben neben dem Unterricht selbst bereits jetzt viele Verpflichtungen. Mit der Einführung des Bring Your Own Device-Konzeptes ist der Zeitaufwand nun noch größer, da der Unterricht auf das Konzept angepasst werden muss, Lehrpläne überarbeitet werden und zusätzliche Berichte geschrieben werden müssen.

Da die Möglichkeiten des Einsatzes von Bring Your Own Device-Konzepten in Bildungsaktivitäten noch nicht hinreichend erforscht sind und wenig Erfahrungen vorliegen, ist der Druck bei den Lehrerinnen und Lehrern sehr groß, Informationen und Daten zusammenzutragen.

Und was jetzt nicht nur den Bring Your Own Device-Ansatz betrifft, ist die finanzielle Komponente. Die japanische Bildungsindustrie ist zwar gut entwickelt aber eben auch an stark an private Unternehmen gekoppelt. Schülerinnen und Schüler werden daher weiterhin finanzielle Unkosten haben. Die Nutzungsgebühr von Classi beträgt momentan 4.000 Yen (35 €) pro Jahr.

Zur Eindämmung der Pandemie sind auch in Japan Anfang März die Schulen geschlossen worden. Diese Situation gab es in vielen anderen Ländern, auch in Deutschland. Viele Fachkräfte interessieren sich daher für neue Möglichkeiten. Wie haben Sie diese Zeit für Ihre Schülerinnen und Schüler gestaltet? Wie hat dabei die bereits begonnene Digitalisierung geholfen?

Ein Aspekt betrifft die Lernunterstützung für zu Hause. Über den Cloud Service kann die Schule Kontakt halten, Tests verschicken oder Aufgaben verteilen. Die Aufgaben können darüber auch eingesammelt und wieder zurückgegeben werden. Die Schülerinnen und Schüler können über Lernvideos und Übungen auch eigenständig an ihrem Lernfortschritt arbeiten.

Mehrwert in der Coronakrise

Die vorübergehende Schulschließung wurde inzwischen bis Mai verlängert und betrifft auch unsere Schule. Wir versuchen über den Cloud Service weiterhin, Tests bereitzustellen, Aufgaben aufzugeben und Lernmethoden vorzustellen.

In Japan gibt es neben den an unserer Schule genutztem „Classi“ auch viele andere Unternehmen, die Lernvideos und Lehrmaterialien bereitstellen. Im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus stellen diese Unternehmen Lerndienste gratis bereit. Wir stellen eine entsprechende Sammlung von Angeboten zur Verfügung, sodass manche Schülerinnen und Schüler diese zusätzlich nutzen.

Ich denke, es stellt einen großen Mehrwert dar, dass Tests und Aufgaben versendet werden können, wenn Schülerinnen und Schüler nicht zur Schule kommen können. Sie können außerdem neue Lernmethoden, neue Lerninstrumente und neue Lernziele kennenlernen. So wird die Lernfähigkeit aufrechterhalten und einem Zurückfallen im Lernprozess entgegengewirkt.

Wegen der Schulschließungen sind viele besorgt wegen des Unterrichtsausfalls und befürchten ein Sinken des Lernniveaus. Diese Sorge konnte bei uns dank der Möglichkeiten, über den Cloud Service, Übungen und Tests verschicken zu können, abgemildert werden.

Ich denke, dass die Verlängerung der Schulschließungen auch zu vermehrtem Stress und Angst bei den Schülerinnen und Schülern führt. Ich denke aber auch, dass es möglich ist, sowohl ihnen als auch ihren Eltern diese Angst ein bisschen zu nehmen, indem Anleitungen und Informationen zu Lernmethoden bereitgestellt werden.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, wie wir uns für die Zukunft aufstellen. Unsere Lehrkräfte versuchen gerade, neue Lehrvideos zu erstellen, um diese den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung zu stellen. Ich denke, das ist nicht nur für die momentanen Schulschließungen, sondern auch für das zukünftige Bildungsgeschehen wichtig. So kann man jederzeit an einem Unterricht teilnehmen, oder das Material für umgedrehten Unterricht benutzen.

Das Interview wurde schriftlich geführt. Übersetzung aus dem Japanischen: Annika Gehring (IJAB)

Hintergrund

In Zeiten, in denen digitale Formate und Anwendungen mit unvorstellbarer Vehemenz und in rasanter Geschwindigkeit ausnahmslos alle Bereiche unseres Lebens erobern, gerät es beinahe aus dem Blick, dass Fragen der Digitalisierung und der Mediennutzung junger Menschen seit vielen Jahren in der non-formalen und formalen Bildung ganz oben auf der Agenda stehen. „Das mediale Umfeld junger Menschen“ ist aktuell Schwerpunktthema der Deutsch-Japanischen Zusammenarbeit im Jugendbereich.

Normalerweise begegnen sich zweimal jährlich Fachkräfte und Expert(inn)en im Rahmen eines Studienprogramms, tauschen Informationen aus, diskutieren, gewinnen neue Erkenntnisse und knüpfen Kontakte; jeweils einmal in Japan und einmal in Deutschland. Zurzeit ist ein solcher Austausch nicht möglich. Mit der Veröffentlichung der „Hintergrundinformationen Jugend und Medien in Japan“ und einem Interview mit einem japanischen Experten, möchte IJAB den fachlichen Austausch weiter am Leben halten.

Weitere Informationen zur jugendpolitischen Zusammenarbeit mit Japan: www.ijab.de/partnerlaender/japan

Quelle: IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., Claudia Mierzowski

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