Atlas der Zivilgesellschaft

Freiheitsrechte weltweit unter Druck – Corona verschärft die Lage

Brot für die Welt und CIVICUS veröffentlichen den vierten „Atlas der Zivilgesellschaft“. Das Entwicklungswerk hat den Bericht zum vierten Mal gemeinsam mit dem Netzwerk CIVICUS in Berlin vorgestellt.

25.05.2021

„Für die Zivilgesellschaft war 2020 kein gutes Jahr. Die Entwicklung der Freiheitsrechte zeigt seit Jahren vor allem nach unten - und das vergangene Jahr markiert einen neuen Tiefpunkt“, sagt Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt, bei der Vorstellung des „Atlas der Zivilgesellschaft 2021“. Fast 90 Prozent der Weltbevölkerung leben demnach in Staaten mit beschränkter, unterdrückter oder geschlossener Zivilgesellschaft. Länder in diesen drei unteren Kategorien sind etwa Ungarn, Ägypten und Indien. Auch die USA sind im letzten Jahr der Amtszeit von Donald Trump aus der zweiten („beeinträchtigt“) in die dritte Kategorie („beschränkt“) abgerutscht. Jeder vierte Mensch - zwei Milliarden weltweit – lebt in einem Staat, der gesellschaftspolitisches Engagement vollständig unterbindet.

Daten aus 2020 sind berücksichtigt

Der Atlas der Zivilgesellschaft geht auf Daten-Erhebungen im vergangenen Jahr zurück und erfasst damit auch die dramatische Zuspitzung der Lage während der Corona-Pandemie. „Millionen Menschen auf der ganzen Welt gerieten durch Corona in Existenznot. Sie protestierten für Gerechtigkeit, Zugang zu Pandemie-Nothilfe und ein Ende von Korruption und Veruntreuung“, sagt Pruin. „Doch als Antwort darauf bekämpften Regierungen in vielen Ländern nicht die Ursachen für den Protest, sondern den Protest selbst.“

Repression verhindert Entwicklung

Der Atlas belegt, dass Grundrechts-Einschränkungen in vielen Ländern wichtige Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit oder Notwendigkeit missachteten. „Repressive Regierungen haben die Pandemie als Gelegenheit genutzt, um unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes Kritiker mundtot zu machen“, sagt Pruin. „Dabei ist der Zusammenhang eindeutig: Repression verhindert Entwicklung. Gerade 2020 hat gezeigt, dass Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle für die Bewältigung von Krisen spielt - etwa dabei, Bedürftige zu versorgen oder marginalisierten Gruppen eine Stimme zu geben.“

Die Zahlen zeigen jedoch eindeutig, dass die dokumentierten Grundrechtsverletzungen im Vergleich zu 2019 beinahe in allen Bereichen gestiegen sind: Es wurden mehr Aktivistinnen verhaftet, mehr Journalisten angegriffen und mehr restriktive Gesetze erlassen. Auch Fälle übermäßiger Gewalt staatlicher Sicherheitskräfte haben deutlich zugenommen.

Der Atlas der Zivilgesellschaft geht im ersten Teil auf den aktuellen Stand weltweiter zivilgesellschaftlicher Freiheiten ein und zeigt an vielen Beispielen die negativen Auswirkungen der Pandemie auf gesellschaftspolitische Teilhabe. Ein Doppel-Interview mit der Juristin Lea Beckmann und dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow beleuchtet die Situation in Deutschland und die schwierige Abwägung zwischen Gesundheitsschutz auf der einen und elementaren Grundrechten wie Versammlungsfreiheit auf der anderen Seite.

Der zweite Teil nimmt die Situation in einzelnen Ländern ausführlich unter die Lupe und analysiert, durch welche konkreten Gesetze und Ereignisse die gesellschaftliche Freiheit beschnitten wurde. Die Länder im Fokus sind in diesem Jahr Kolumbien, Kambodscha, Georgien, Simbabwe, die Philippinen und El Salvador. Kurz-Interviews mit Partnerorganisationen von Brot für die Welt zeigen, welchen Schwierigkeiten zivilgesellschaftliche Organisationen in den unterschiedlichen Bereichen ausgesetzt sind.

Gewalt gegen Frauen in El Salvador hat weiter zugenommen

Die Frauenrechtlerin Morena Herrera aus El Salvador etwa beschreibt, dass die Gewalt gegen Frauen in El Salvador während der Pandemie weiter zunahm. Das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden beschreibt sie so: „Meine Organisation hat früher sehr viele Polizisten geschult, etwa in den Themen Frauen- und Menschenrechte oder Gleichberechtigung. Heute aber haben wir keinerlei Vertrauensverhältnis mehr zur Polizei. Sie hat jedes Gefühl für die Gesellschaft und auch für ihre zivile Rolle verloren. Das ist schlimm.“ Auf den Philippinen hat Präsident Duterte die Methoden seines „War on drugs“ auf die Bekämpfung der Pandemie übertragen. Mehr als 100.000 Menschen wurden allein zwischen März und September verhaftet, weil sie sich – so der Vorwurf – nicht an die Pandemie-Regeln hielten.

Hintergrund

Die Daten für den Atlas der Zivilgesellschaft basieren auf Erhebungen von CIVICUS, einem weltweiten Netzwerk für bürgerschaftliches Engagement, und der Auswertung verschiedener Quellen und Indizes, beispielweise zur Rede- oder Versammlungsfreiheit.

CIVICUS unterteilt die Freiheitsgrade einer Gesellschaft in fünf Kategorien: offen, beeinträchtigt, beschränkt, unterdrückt und geschlossen. Die Daten belegen, dass der Handlungsraum der Zivilgesellschaft nur in 42 Staaten „offen“ ist. Costa Rica und Slowenien sind im Vergleich zum Vorjahr aus dieser Kategorie abgerutscht, Österreich ist hinzugekommen. In 40 Staaten (Atlas 2020: 42) ist der Handlungsraum „beeinträchtigt“, darunter EU-Staaten wie Italien, Frankreich und Polen. 47 Staaten (2020: 49) „beschränken“ den Handlungsraum der Zivilgesellschaft, auch die USA und Ungarn. Die Zivilgesellschaft wird in 44 Staaten „unterdrückt“ (2020: 38), neu in dieser Kategorie sind etwa die Philippinen und Togo. Als „geschlossen“ gilt der Raum für zivilgesellschaftliche Akteure in 23 Staaten (2020: 24), darunter Ägypten, Aserbaidschan, Irak und China.

Quelle: Brot für die Welt vom 04.05.2021

Back to Top