Im Gespräch

Praxisalltag und Corona – Enormes Arbeitspensum der Fachkräfte, viel Kreativität und guter Austausch mit den Trägern

In unserer Reihe „Im Gespräch“ über die Auswirkungen der Corona-Pandemie sprechen wir mit Stadträtin Ulrike Gote. Sie ist seit August 2019 Dezernentin für Jugend, Frauen, Gesundheit und Bildung der Stadt Kassel.

27.01.2021

Die Diplom-Geoökologin war von 1998 bis 2018 Abgeordnete des Bayerischen Landtags, von 2013 bis 2018 war sie Landtagsvizepräsidentin. Sie spricht über engagierte und kreative Mitarbeitende, deren Tatkraft es zu verdanken ist, dass die Angebotspalette auch in der Pandemie aufrecht erhalten werden konnte.

Engagierte Fachkräfte halten das Angebot weitgehend aufrecht und bauen es aus

Frau Stadträtin Gote, gerade einmal 6 Monate Zeit zur Einarbeitung hatten Sie, bis die Corona-Pandemie den Regelbetrieb bei Bund, Ländern und Kommunen „außer Kraft gesetzt“ hat. Der zweite Lockdown kurz vor Weihnachten verändert wiederum massiv das Miteinander der Menschen. Als lokale Entscheiderin ist es Ihre Aufgabe, einerseits die Vorgaben von Land und Bund umzusetzen; andererseits Maßgaben und Konzepte für die eigenen Aufgabenbereiche zu entwickeln. Sie können auf die Erfahrungen aus März/April zurückgreifen. Was sieht das Konzept der Stadt Kassel insbesondere im Jugendbereich vor?

Ulrike Gote: Wir sind sehr froh, dass anders als beim ersten Lockdown unsere Jugendzentren und Jugendangebote nicht komplett schließen müssen. Wir können weiterhin alles anbieten, was nicht ausschließlich Freizeitgestaltung ist, also Bildungsangebote, Beratungsgespräche individuelle Unterstützung. Alle Jugendeinrichtungen in Kassel haben sich durch die harte Erfahrung aus dem letzten Jahr sehr gut auf die Rahmenbedingungen einer Pandemie eingestellt. Es gibt überall gut ausgearbeitete Hygienekonzepte, die auch eingehalten und gelebt werden. Alle Einrichtungen haben Corona-angepasste Angebote entwickelt. Dies kommt uns jetzt zugute. Ich bin sehr begeistert und dankbar, mit wieviel Engagement und Kreativität unsere Mitarbeiter/-innen vielfältige Jugendangebote aufrechterhalten. Dazu zählen virtuelle Hausaufgabenhilfe bzw. Online-Lernen, Video- und Telefonsprechstunden, Video-Spiel- und Bastelstunden, Online-Sport und speziellen Mädchenangebote und vieles mehr. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Trotz aller Anstrengungen erreichen wir nur einen Bruchteil der jungen Menschen wie in normalen Zeiten. 

Wie hat Ihr Jugendamt diese Herausforderungen seit Beginn der Pandemie meistern können? Gab es besondere Angebote? Konnten die besonderen Aufgaben mit dem vorhandenen Personal umgesetzt werden?

Ja, wir haben die Herausforderungen mit dem vorhandenen Personal gemeistert. Die Mitarbeitenden in allen Bereichen der Jugendarbeit und Jugendförderung, in der Jugendhilfe und in den Kindertagesstätten haben große Flexibilität gezeigt und ein enormes Arbeitspensum geschultert. Dazu kam ja auch, dass Mitarbeitende auch in anderen Bereichen der Verwaltung eingesetzt wurden und personelle Reserven organisiert werden mussten, um krankheitsbedingten Ausfall zu kompensieren. Viele Mitarbeitende gehören darüber hinaus auch selbst zu Risikogruppen und konnten nicht „normal“ weiterarbeiten.

Ein besonderes Angebot war unsere Kinder- und Jugendhotline, die täglich von 14 bis 20 Uhr erreichbar war. Wir haben im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes Mittagessen zum Abholen an Schulen angeboten und zusätzlich Lunchpakete in den Jugendzentren ausgegeben. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlen in dieser Corona-Zeit nicht nur regelmäßige Sozialkontakte – was schlimm genug ist – sondern auch regelmäßige Mahlzeiten. In den Kitas bekamen die Vorschulkinder besondere Aufmerksamkeit, damit der wichtige Entwicklungsschritt Übergang in die Schule trotz Corona ein positives Ereignis wurde. So wurden z.B. im Rahmen der Hygieneempfehlungen angepasste Abschlussrituale entwickelt. 

In der gesamten Zeit standen wir in gutem Austausch mit unseren freien Trägern: Auch diese haben während des Lockdowns ähnliche Angebote gemacht und sich sehr gut auf die Krisensituation eingestellt.

Brückenbau trotz Corona: Kreative Wege zum Kontakthalten und zur Unterstützung bedürftiger Kinder und ihrer Familien

Ein Herzstück der Sozialen Arbeit ist die Beziehungsarbeit, die durch persönliche Kontakte und Vertrauen ermöglicht wird. Wie ist es gelungen, den Kontakt zu unterstützungsbedürftigen Familien und ihren Kindern in der Zeit von Kontaktbeschränkungen und Schließung von Kitas und Schulen zu erhalten?

Die pädagogischen Fachkräfte in den Einrichtungen haben Kontakt über Telefon/Handy – mündlich und schriftlich und, wenn die Ausstattung in den Familien vorhanden war, über Videoformate gehalten. Zudem wurden Briefe geschrieben, Spiel- und Beschäftigungspäckchen gepackt und z.B. an die Zäune zur Abholung gehängt oder zu den Familien gebracht. Der hessische Bildungs- und Erziehungsplan wurde berücksichtigt, so z.B. Experimente für das forschende Kind. Wir haben uns dafür eingesetzt, diesen Personenkreis frühestmöglich in die Gruppe der Ausnahmen vom Betretungsverbot zu bekommen und den Spielraum der Verordnungen soweit genutzt, die Kinder unterstützungsbedürftiger Familien wieder in den Kitas aufzunehmen. In dieser Zeit hat uns die enge Vernetzung zu den freien Trägern von Kindertagesstätten, zum ASD des Jugendamtes und der Jugendförderung mitgeholfen. 

Konnten Sie auf gute Strukturen und Kooperationen, die eine Zusammenarbeit erleichterten, zurückgreifen?

In Kassel besteht durch den inhaltlichen Zuschnitt des Dezernates schon eine sehr gute Struktur und Kooperation für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe, Schule und Gesundheit. Alle Bereiche verfügen über gute Kooperationsstrukturen in den Sektor freie Trägerschaft, was die enge Zusammenarbeit zur Bewältigung der Krise erleichtert und deutlich unterstützt hat. 

Gemeinsam für die Bürgerinnen und Bürger: Das Krisentelefon von Studierenden der Universität Kassel

In Kooperation mit Studierenden des Masterprogramms „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ der Universität Kassel konnten Sie in den ersten Wochen der Pandemie ein Krisentelefon einrichten. 

Ja, dies war eine Initiative von Frau Prof. Heidi Möller vom Lehrstuhl Psychologie an unserer Universität, die wir gerne unterstützt haben. Eine tolle Aktion mit win-win-Charakter, denn die Studierenden konnten ihr Engagement in ihr Studium integrieren und haben wertvolle Erfahrungen in ihrem späteren Berufsfeld sammeln können. Die Organisation erfolgte über die Universität. Wir haben versucht, dieses Beratungsangebot in unsere Strukturen in Gesundheits- und Jugendamt zu integrieren und eng zusammen zu arbeiten. Gerade während des ersten Lockdowns hat dies unsere eigene Hotline entlasten können. Dieses Angebot wird auch in diesem Semester weitergeführt.

Projekt-Steckbrief: Corona-Krisentelefon

Projektinhalt:
Keine medizinische Beratung, aber Hilfe in Not: Kasseler Psychologie-Studierende bieten ein Sorgen-Telefon zur Corona-Krise an.

Zielgruppe:
Bürger/-innen der Region Nordhessen

Kooperationspartnerinnen und -partner:
Universität Kassel und Stadt Kassel

Organisatorische Federführung:
Frau Professorin Heidi Möller, Leiterin des Fachgebiets Theorie und Methodik der Beratung, Universität Kassel

Kosten:
Keine. Die Beratung findet im Rahmen des Masterstudiums statt und stellt für die Studierenden eine Studienleistung dar.

Kontakt:
Zunächst ist die Hotline Montag und Freitag von 10 bis 14 Uhr und Dienstag und Donnerstag von 16 bis 20 Uhr unter der Nummer 0561 804-2882 zu erreichen. Je nach Nachfrage kann das Angebot im Verlauf der Pandemie angepasst werden.

Die Stadt Kassel hat mit dem „Wiederankurbelungsprogramm "Kopf hoch, Kassel"“ aktiv ein eigenes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht. Ist es denkbar, dass in diesem Rahmen auch das Krisentelefon z. B. als Projekt im Rahmen des § 16 SGB VIII als eine Maßnahme zur Förderung der Erziehung in der Familie umgesetzt wird, z. B. mit Kooperationspartnerinnen und -partnern wie den Familienbildungsstätten?

Das Programm „Kopf hoch, Kassel“ hatte und hat den Zweck, dass unter der Pandemie leidende Vereine, Unternehmen und Kulturschaffende unbürokratisch finanzielle Unterstützung bekommen können. Für unseren kommunalen Auftrag zur Daseinsvorsorge und in diesem Sinne zur Pandemiebewältigung, haben wir als Stadt Kassel alle notwendigen Mehrausgaben über einen Nachtragshaushalt finanziert. Mit diesen Haushaltsmitteln hätten wir auch das Krisentelefon finanzieren oder bezuschussen können, wenn es denn Geld gekostet hätte. Die Universität hat mit ihrem Konzept, das Krisentelefon als Teil der psychologischen Ausbildung anzulegen, in beeindruckender Weise Verantwortung für die Menschen in unserer Region genommen. Dafür gilt ihr, den Studierenden und Frau Professorin Möller, mein Dank.

Umsteuern für die Chancengleichheit auf allen Ebenen: Die Lebenslagen der von Armut bedrohten und in Armut lebenden Kinder müssen von Bund und Land stärker berücksichtigt werden. 

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich als Dezernentin mit der politischen Verantwortung für das Amt für Schule und Bildung, das Jugendamt, das Gesundheitsamt der Region Kassel, das Amt Kinderbetreuung Kassel und das Frauenbüro in naher Zukunft zum Beispiel von Land und Bund wünschen?

Wir sollten gemeinsam den jungen Menschen mehr Aufmerksamkeit geben, die aufgrund bereits schlechter Ausgangslage besonders unter Corona leiden: Kinder und Jugendliche, die von Armut bedroht sind oder in Armut leben, leiden besonders. Ihre besondere Situation spielt bei allen Überlegungen zu Schule und Bildung eine zu geringe Rolle. Ungleiche Bildungschancen werden noch ungleicher. Wir brauchen mehr finanzielle (ausreichende!) Unterstützung von Land und Bund, um Chancengleichheit beim Distanzlernen sicher zu stellen. Dazu gehört auch die digitale Ausstattung zuhause (W-Lan!). Jugendarbeit und Jugendförderung sind systemrelevant und unverzichtbar. Die Einordnung als „freiwillige“ Leistungen suggeriert, dass das verzichtbar wäre. Das muss sich ändern. Wir brauchen mehr personelle und finanzielle Ressourcen für den Kinder- und Jugendschutz und Prävention. Für gerechte Teilhabe- und Bildungschancen für alle Kinder in Kassel.

Frau Gote, herzlichen Dank, dass Sie sich trotz der aktuellen Situation die Zeit für das Gespräch genommen haben. 

Kontakt:
Stadt Kassel, Dezernat Jugend, Frauen, Gesundheit und Bildung
Rathaus
34112 Kassel
ulrike.gote@kassel.de

Das Gespräch führte Erste Stadträtin a. D. Christa Frenzel.

Lesen Sie auch unsere Gesprächsreihe „Jugend und Corona“.

Redaktion: Iva Wagner

Back to Top