Interview

Plan International rechnet mit Hungerkrisen

Das unabhängige Kinderhilfswerk Plan International ist in mehr als 75 Ländern auf drei Kontinenten vertreten. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Mädchen und Jungen weltweit ihre Zukunft selbst gestalten können. Eine Möglichkeit ihre Arbeit zu unterstützen ist, als sogenannter Pate in Deutschland mittels Spenden ein ausgesuchtes „Patenkind“ aus einem Entwicklungsland zu fördern. Im Interview mit dem Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe erzählt die Vorsitzende der Geschäftsführung von Plan International, Maike Röttger, wie sich die Pandemie auf Kinder und Jugendliche weltweit auswirkt.

03.12.2020

Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe: Wie halten ihre Mitarbeiter/-innen Kontakt zu den Patenkindern und Familien in den jeweiligen Ländern?

Maike Röttger: Das ist eine Herausforderung, weil wir uns global alle Projekte gleichzeitig anschauen müssen. In der Regel sind Krisen lokal begrenzt, etwa bei Erdbeben, Wirbelstürmen oder bewaffneten Konflikten. Dann bündeln wir alle Kräfte, um  die Kinder und deren Familien im Krisengebiet gezielt zu unterstützen. Doch die Corona-Pandemie ist eine globale Krise. Alle Länder sind gleichzeitig betroffen. Unser Vorteil ist jedoch, dass unsere Mitarbeitenden nicht erst einfliegen müssen. Sie sind bereits vor Ort. Auf diese Weise können wir in jedem Land die jeweils passenden Maßnahmen ergreifen. Mittlerweile sind die harten Zugangsbeschränkungen vielerorts zumindest teilweise gelockert worden. Deshalb können zahlreiche Büros wieder arbeiten. In Asien und Westafrika beispielsweise.

Dort wo Büros aufgrund nationaler Ausgangsbeschränkungen geschlossen sind, halten wir den Kontakt weitestgehend über das Internet. Die Kommunikation zwischen Patinnen, Paten und Patenkindern ist in zahlreichen Regionen nur eingeschränkt möglich. Aber auch hier gibt es regionale Unterschiede.  Deshalb setzen wir erst einmal Prioritäten. Ganz oben steht, über die Auswirkungen von Covid-19 zu informieren. Im Rahmen der humanitären Nothilfe verteilen wir mit Unterstützung unserer lokaler Netzwerke Masken, Hygieneartikel, Nahrungsmittel und zum Teil auch Geld. Trotz aller Widrigkeiten laufen die meisten Projekte dank des großen Einsatzes der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie der Partner und Freiwilligen vor Ort weiter.

Was macht Plan International in Regionen, wo es kein Internet gibt oder nicht alle Menschen lesen und schreiben können?

Dort nutzen wir das Radio. Außerdem haben die Plan-Mitarbeitenden in vielen Gemeinden schon vor der Pandemie Jugendgruppen aufgebaut. Da treffen sich Jungen und Mädchen, um darüber zu sprechen, wie sie ihre Lebensumstände verbessern können. Diese Gruppen übernehmen jetzt auch viele Aufgaben wie zum Beispiel über Hygienemaßnahmen zu informieren.

Auch Ihre Mitarbeiter/-innen können sich mit Covid-19 anstecken. Stehen extra Testmöglichkeiten zur Verfügung?

Wir tragen eine hohe Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und unseren Ehrenamtlichen. Deshalb haben wir weltweit Schutzmaßnahmen für sie vereinbart. Wir haben sie geschult, wie sie sich und andere schützen können, in allen Teams Masken und Desinfektionsmittel verteilt oder mobiles Arbeiten von zu Hause aus eingeführt. Es gibt auch Möglichkeiten, sich testen zu lassen.

Die Pandemie gefährdet die Gleichberechtigung

Plan International kümmert sich schwerpunktmäßig besonders um Mädchen und junge Frauen. Welche Auswirkungen hat ein Lockdown auf ihr Leben?

Mädchen und junge Frauen sind in einer solchen Ausnahmesituation einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, Gewalt zu erleben und dauerhaft die Schule zu verlassen. Damit wird ihre Chance auf ein selbstbestimmtes Leben minimiert. Es ist zu befürchten, dass die Auswirkungen der Pandemie die bisher erlangten Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung zum Scheitern bringen. Das ist tragisch, denn Gleichberechtigung ist einer der wirksamsten Faktoren, um Armut nachhaltig zu bekämpfen. Deshalb versuchen wir in solchen Fällen in Kontakt zu bleiben und Einzelberatungen anzubieten. In den Flüchtlingscamps haben wir beispielsweise sogenannte Safe Spaces, also sichere Orte, für sie eingerichtet. Gleichzeitig geht es in dieser globalen Krise darum, die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen.

Was heißt das genau? Besonders wichtig im Kampf gegen die Verbreitung von Covid-19 sind die Hygienemaßnahmen. Aber in vielen Ländern ist fließend sauberes Wasser keine Selbstverständlichkeit.

In Deutschland machen sich viele Menschen Sorgen, ob genügend Klopapier in den Regalen liegt. In anderem Ländern dagegen haben speziell Mädchen und Frauen gar keinen Zugang zu Hygieneartikeln – besonders in der Krise. Und das ist beispielsweise während der Menstruation besonders belastend. Viele Mädchen und Frauen werden während dieser Tage stigmatisiert oder einfach weggeschlossen. Deshalb verteilen wir im Rahmen der Nothilfe ja auch entsprechende Hygieneartikel.

Es gibt nicht überall Latrinen oder Toiletten, wo man sich regelmäßig die Hände waschen kann. Wie hilft Plan International in diesem Fall?

Wir unterstützen mit Projekten wie Brunnenbau, die allgemein in der Gemeindearbeit integriert sind. Hygiene generell ist auch überlebenswichtig für kleine Kinder. Damit die Bewohnerinnen und Bewohner in den Gemeinden die empfohlenen Hygieneregeln einhalten können, installieren wir eine große Zahl sogenannter „Tippy Taps“, einfache lokale Handwaschsysteme, die mit einem Fußpedal und ohne Handkontakt bedient werden. Zur Projektarbeit gehört auch, darauf zu achten, wie der Abfall entsorgt wird oder, dass Vieh auf eingezäunten Flächen gehalten wird und nicht durch den Ort läuft.

Viele fallen in traditionelle Muster zurück

Ein anderes Problem ist, dass viele Schulen und Kindergärten wegen der Pandemie oftmals geschlossen sind.

Momentan können allein etwa 740 Millionen Mädchen weltweit nicht die Schule besuchen und wir vermuten, dass viele von ihnen nicht mehr in ihre Klassen zurückkehren…

…sondern zum Beispiel zwangsverheiratet werden.

Viele werden viel zu früh verheiratet, da fallen die Familien in ihre alten traditionellen Muster zurück. Besonders die, die gerade den Sprung geschafft hatten und auf weiterführende Schulen gehen, sind davon betroffen. Durch die Pandemie müssen sich zudem viele Mädchen und junge Frauen zu Hause um den Haushalt oder die Pflege von Angehörigen kümmern.

Stichwort Bildung: Wie können Plan-Mitarbeiter/-innen den Patenkindern helfen an Homeschooling-Programmen teilzunehmen?

Im Lockdown wird versucht, die Lerninhalte entweder übers Internet, Fernsehen oder Radio zu verbreiten. Zudem haben wir eine „Back to School“ Kampagne gestartet, um zu erreichen, dass die Schulen wieder geöffnet werden, wo dies unter sicheren Bedingungen möglich ist.

Zur Schule gehen bedeutet auch, dass viele Kinder nur dort die einzige ausreichende warme Mahlzeit am Tag bekommen. Wie versucht Plan International das Mittagessen in der Schule zu ersetzen?

Das ist ein großes Problem, auf das aber auch vielfach reagiert wurde. Weltweit haben Geber, wie die Bundesregierung, zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Außerdem unterstützt hier das Welternährungsprogram der Vereinten Nationen. In Kambodscha etwa gibt es Aktionen, um Nahrungsmittelrationen sogar nach Hause zu bringen – als Ersatz für das Schulessen. Wir rechnen aber generell weltweit mit einem starken Anstieg von Hungerkrisen. Laut Vorhersagen der Vereinten Nationen wird  sich bis Ende dieses Jahres die Zahl der von Hunger betroffenen Menschen innerhalb von zwölf Monaten auf 265 Millionen verdoppelt haben.

Aus den Fenstern hängen weiße Fahnen

Welche Länder sind davon momentan besonders betroffen?

Wenn ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Lateinamerika spreche, dann höre ich, dass die Menschen dort weiße Fahnen aus den Fenstern hängen, weil sie nichts mehr zu essen haben. Das ist dramatisch. Aus Kolumbien gibt es Meldungen, dass der Bürgerkrieg wieder aufzuflammen scheint. Eine Folge davon ist, dass die Menschen ihre Felder nicht mehr bestellen können.

Wir haben schon über Flüchtlingslager gesprochen. Wie hoch ist dort die Möglichkeit der unkontrollierten Verbreitung von Covid-19?

Plan International ist beispielsweise auch im Flüchtlingscamp in Cox‘s Bazar in Bangladesch aktiv. Dort leben mehr als eine halbe Million geflüchtete Rohingya aus Myanmar. Angeblich hat sich dort erst eine dreistellige Zahl an Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass das nicht stimmen kann. Das verunsichert natürlich die Familien und Kinder. Medizinische Versorgung ist dort kaum möglich. Deshalb bündeln wir unsere Kräfte, um über das Coronavirus und dessen Verbreitung aufzuklären und dafür zu sorgen, dass es zumindest sauberes Wasser und Seife gibt.

Im Lockdown sind viele Kinder und Jugendliche und vor allen Dingen Mädchen vermehrt Gewalt und Missbrauch ausgesetzt. Wie kann Plan International hier helfen?

Es gibt in einigen Ländern spezielle Hotlines an die sich Kinder und Jugendliche wenden können. Doch je länger der Lockdown anhält, desto größer ist die Gefahr, dass junge Frauen und Mädchen auch ungewollt schwanger werden. Wir haben ähnliche Erfahrungen während der Ebola-Krise in Westafrika gemacht. Wenn die Gesundheitssysteme aufgrund einer Epidemie oder eben Pandemie überlastet sind, haben Mädchen und Frauen oftmals keinen Zugang mehr zu Verhütungsmitteln und werden während einer Schwangerschaft nicht optimal versorgt. Deshalb werden wir auch nicht müde, die Bundesregierung im Zusammenhang mit Hilfsmaßnahmen auch immer wieder auf diesen Aspekt hinzuweisen. Zuletzt haben wir das anlässlich der Geberkonferenz für die Sahel-Zone getan.

Eine Befürchtung ist auch, dass global gesehen alle Errungenschaften der internationalen Hilfsorganisationen über die letzten Jahrzehnte fast wieder Zunichte gemacht werden wie zum Beispiel in den Bereichen Hygiene, Bildung, Ernährung, Wohlstand und Gleichberechtigung.

Ja, absolut. Und am meisten leiden die Kinder und Jugendlichen und im Besonderen die Mädchen und Frauen. Sie sind in der Regel auch die Care Worker, die sich um jüngere Geschwister, die Kranken, Schwachen und Alten kümmern.  Man kann jetzt schon sagen, wir werden alle relevanten Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, wie beispielsweise mehr Bildung oder das Eindämmen von Mangelernährung, nicht mehr erreichen können. Deshalb ist das Engagement von Plan International heute wichtiger denn je. Wir werden nicht nachlassen, immer wieder auf die Situation der Betroffenen hinzuweisen und mit unseren vielfältigen Aktivitäten die Situation der Kinder zu verbessern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Caroline Schmidt-Gross

Back to Top