Kinder- und Jugendarbeit

Kulturelle Teilhabe in der Corona-Krise: Was jetzt nötig ist

BKJ-Vorsitzende Susanne Keuchel im Gespräch mit Tom Braun, BKJ-Geschäftsführer

Junge Menschen leiden massiv unter den Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Akteure der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung stehen bereit, um ihnen wieder kreative Freiräume, Anregungen und Beteiligungsmöglichkeiten anzubieten. Viele haben bereits Konzepte erarbeitet, wie das unter Einhaltung von Abstands- und Hygiene-Regeln möglich ist. Ihnen sollte jetzt im Sinne kommulaler Bildungslandschaften die Chance gegeben werden, diese gemeinsam mit Schulen zu erproben, so die Vorsitzende der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) Susanne Keuchel im Interview.

07.05.2020

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation für Kinder und Jugendliche in Deutschland?

Keuchel: Die Corona-Krise hat das Leben aller Menschen auf den Kopf gestellt. Das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben wurde über Nacht eingefroren. Die ersten Lockerungen des „Shutdowns“ sind stark auf wirtschaftliche Interessen ausgelegt. Die Politik diskutiert darüber, ob die Menschen in diesem Land Möbel einkaufen können oder ob der DFL Geisterspiele im Stadion erlaubt werden. Ein Diskurs darüber, ob und wann junge Menschen wieder einen Sportverein oder Musikschulen besuchen können, findet hingegen kaum statt. Dabei leiden Kinder und Jugendliche am stärksten unter den harten Maßnahmen der Corona-Krise und werden durch sie in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtigt.

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Bislang stehen die Rechte und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ganz unten auf der Prioritätenliste der Corona-Lockerungen. Noch zeigen sich junge Leute sehr solidarisch, obwohl sie vielfach nicht zur Risikogruppe gehören, tragen Masken, unterstützen Risikogruppen bei Besorgungen. Doch wie lange wird diese Solidarität anhalten, wenn wir hier nicht auch demokratische Mitsprachen ermöglichen und auch junge Bedürfnisse in den Blick nehmen?

Wir fordern daher, dass das Wohl von Kindern und Jugendlichen nicht länger hinter ökonomischen Interessen zurückstehen darf! Die Politik muss jetzt in Kooperation mit den zivilgesellschaftlichen Strukturen, Wege und Perspektiven erarbeiten, wie Kindern und Jugendlichen in Krisenzeiten kulturelle und soziale Teilhabe ermöglicht werden kann.

Wie stellt sich die Lage in der kulturellen Kinder- und Jugendbildung dar?

Alle nicht schulischen Bildungs- und Gestaltungsräume von Jugendlichen wie das Musizieren, das Theaterspielen und weitere kreative Aktivitäten sind von einem auf den anderen Tag zum Stillstand gekommen. Das sind die Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen, mit denen sie sich mit sehr viel Interesse und Engagement freiwillig auseinandersetzen und in denen sie Gemeinschaft mit Gleichgesinnten erleben. Dahinter stehen viele ehrenamtlich Engagierte, aber natürlich auch professionell Tätige, deren Existenz nun bedroht ist. Ein Gros des kulturellen Bildungsbereichs ist auf Mischfinanzierungen angewiesen. Einnahmen aus Teilnahmebeiträgen und Projektmitteln tragen die Infrastruktur mit, weil es in vielen Bereichen keine oder kaum ausreichende Grundfinanzierung gibt. Diese prekären Konstrukte fallen uns jetzt auf die Füße. Hinzu kommt die Situation der vielen freiberuflichen Kräfte in unserem Feld, für die es keine passfähigen Hilfsmaßnahmen gibt. Viele von ihnen fallen übrigens auch bei den jetzt geforderten und in einzelnen Ländern eingerichteten Soforthilfen für Künstler*innen durchs Raster, weil sie als Pädagog*innen nicht das Kriterium erfüllen, Mitglied der Künstlersozialkasse zu sein..

Wie gehen die Akteurinnen und Akteure mit dieser Situation um?

Trotz dieser Existenzbedrohung fangen sehr viele professionelle wie ehrenamtliche Akteure an, kontaktarme, digitale Angebote zu entwickeln. Wir kämpfen in der Kulturellen Bildung schon seit einiger Zeit sehr stark dafür, dass wir uns im Digitalen besser aufstellen können und haben hier entsprechende technische Infrastruktur, Fortbildungen und Experimentierraum gefordert, um analog-digitale Bildungsangebote der Zukunft zu gestalten. Nach dem Motto „Not macht erfinderisch“ werden diese Entwicklungen nun ohne entsprechenden Rückhalt vorangetrieben: Vielerorts werden neue Formate einfach ausprobiert.

Ist also der digitale Raum die Alternative zum Analogen?

Das Digitale bietet uns in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit aktuell die Chance, die Zeit der physischen Kontaktsperren zu überbrücken. Aber es gibt auch spannende kontaktarme Alternativen, die Kulturpädag*innen entwickelt haben. Beispielsweise die Kultur-Care-Pakete der LAG Kunst und Medien NRW, mit denen Einrichtungen der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit auf analogem Wege Kontakt halten können. Dies ersetzt natürlich langfristig nicht analoge kulturelle kontaktfreudigere Bildungserfahrungen wie das gemeinsame Theaterspielen oder Tanzen.

Grundsätzlich gilt: Kinder und Jugendliche leben in digital-analogen Lebenswelten, zu denen beides ganz selbstverständlich hinzugehört. Das müssen wir in der kulturpädagogischen Arbeit noch viel stärker berücksichtigen, ganz unabhängig von Corona. Hier sind wir auch auf finanzielle Unterstützung der Politik angewiesen, beispielsweise Förderprogramme, die entsprechenden Experimentierraum und Fortbildungen ermöglichen.

Wie kann der Weg aus dem „Shutdown“ in der Kulturellen Bildung aussehen?

Hier gibt es schon viele kreative Ideen innerhalb der Verbände zu kontaktarmen Formaten. Vieles wäre unproblematisch umzusetzen. Warum diese Möglichkeiten der Öffnung für Kinder und Jugendliche bisher nicht berücksichtigt werden, erschließt sich mir nicht. Und es könnte hier strategisch auch viel weiter gedacht werden im Sinne kommunaler Bildungslandschaften zum Beispiel. Die Schulen können aufgrund notwendiger Abstände nicht alle Schüler*innen parallel unterrichten und überlegen, Wechselschichten einzurichten.

Warum hier nicht die bestehenden kommunalen nichtschulischen Bildungsorte einbinden? Ein Tag in der Schule, den anderen an einem Bildungsort der eigenen Wahl, im Museum, der Musikschule oder auch dem Sportverein. Das wäre eine konsequente Umsetzung von kommunalen Bildungslandschaften.

Ich würde mir daher im Sinne der Kinder und Jugendlichen wünschen, dass die zivilgesellschaftlichen Fachverbände der Bereiche Jugend, Bildung, Kultur und Sport jetzt viel stärker eingebunden werden, um zusammen mit der Politik Strategien zu entwickeln. Wenn wir im Gespräch miteinander überlegen, was möglich ist, finden wir auch viele kreative Konstellationen, um den analogen öffentlichen Raum wieder für ein Miteinander zu öffnen, ohne Gesundheit zu gefährden.

Finden die Interessen von Kindern und Jugendlichen aktuell zu wenig Gehör? Vermissen Sie das Vertrauen der Politik in die Zivilgesellschaft, die sich für Jugend, Kultur, Bildung und Sport engagiert?

Zunächst ist positiv festzuhalten, dass im Bereich der Sofortmaßnahmen etwa seitens des Bundesjugendministeriums oder der Kulturstaatsministerin sehr viel Unterstützung in Bezug auf die direkte Existenzbedrohung gekommen ist. Die Soforthilfe ist absolut notwendig, damit die Strukturen nicht zusammenbrechen. Aber was strategische Fragestellungen über die akute Situation hinaus betrifft, sehe ich durchaus Nachholbedarf. Mein Eindruck ist, dass die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren ein bisschen zurückgedrängt worden ist. Es wird viel auf die Wissenschaft gehört, was ja auch gut ist. Aber zivilgesellschaftliche Fachstrukturen schlagen Brücken von der Wissenschaft zur Praxis und zu den jungen Menschen, die es betrifft. Die zivilgesellschaftliche Perspektive ist deshalb wichtig, um für gesellschaftliche Herausforderungen realitätsnahe Lösungen im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu finden.

Was heißt das konkret: Welche Rolle der Akteure der Kulturellen Bildung wünschen sie sich in und nach der Corona-Krise? Wie könnte sich das Feld neu aufstellen?

In den letzten zehn Jahren ist sehr viel in Projektförderung umgewidmet worden. Es sind prekäre Modelle der Mischfinanzierung entstanden. Zugleich sind viele gesellschaftliche Herausforderungen wie Ganztag, frühkindliche Förderung, Diversität, Digitalität und Demokratiebildung hinzugekommen. Wenn wir nun den zweiten Schritt gehen, also über die Soforthilfen hinausdenken, würde ich mir wünschen, die Gelegenheit für eine Systemmodernisierung zu nutzen. Wir sollten die Fördermechanismen kritisch unter die Lupe nehmen: Wie können wir zu Strukturen kommen, die im Sinne des Vertrauens und der Nachhaltigkeit krisenfester aufgestellt sind, um alle Kinder und Jugendliche zu erreichen? Eine wichtige Maßnahme für unser Feld könnte daher ein integrierter Hilfe- und Zukunftsfonds sein, der nicht nur die bestehenden kulturellen Bildungsstrukturen für Kinder und Jugendliche nach der Krise erhält, sondern diese auch zukunftsorientiert unter Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen und Jugendthemen wie Nachhaltigkeit, Teilhabe und demokratische Mitbestimmung weiterentwickelt.

Wir müssen unsere Verantwortung für Kinder und Jugendliche endlich ernst nehmen. Es geht um ihre Zukunft! Bis vor kurzem war das beherrschende Thema die Fridays-for-Future-Bewegung und die Rettung des Planeten. Wie ernst haben wir dieses Thema genommen? Auch über Corona hinaus müssen wir versuchen, die Zukunft so gut wie möglich zu gestalten. Deshalb wünsche ich mir für unser Feld eine Allianz für die Zukunft der Jugend mit einer Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Akteuren und vor allem eine Politik, die die Belange von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt.

Prof. Dr. Susanne Keuchel ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Vorsitzende der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und Präsidentin des Deutschen Kulturrats. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Empirische Kulturforschung und neue Technologien im Kulturbereich.

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Quelle: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ)

Redaktion: BKJ Redaktion

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