Coronavirus

Kommentar der AGJ-Vorsitzenden: Corona geht uns alle an – nur manche ganz besonders!

Die Vorsitzende der AGJ, Prof. Dr. Karin Böllert, beim Festakt „70 Jahre AGJ“ im Oktober 2019.

Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, blickt in einem Kommentar auf die Herausforderungen von und Perspektiven nach Covid-19. Sie spricht darin über die vielfältigen und professionellen Bemühungen, die Arbeitsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe aufrecht zu erhalten, und beleuchtet mögliche Perspektiven für eine Zeit nach der Corona-Pandemie.

25.06.2020

Die ursprüngliche Form dieses Kommentars ist in der Fachzeitschrift
neue praxis, 50. Jg. 2020 / Heft 2 erschienen.

Kommentar der AGJ-Vorsitzenden Prof. Dr. Karin Böllert:

Mitte Juni 2020 werden weltweit offiziell mehr als 8 Millionen Infizierte mit Covid-19 gezählt, knapp 440.000 Menschen sind demnach bislang an der Infektion verstorben. Vermutet werden kann, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten und Verstorbenen weit höher ist. Während sich die Situation in Europa entspannt, nehmen die Fälle insgesamt dramatisch zu, mehr als 3,7 Millionen Menschen gelten aktuell als infiziert, über 3,88 Millionen als genesen. In Deutschland waren bis 16. Juni 186.839 Menschen infiziert, 8.800 Menschen sind an der Pandemie verstorben, 173.100 genesen. Seit vielen Wochen verändert die weltweite Covid-19 Pandemie in einem bislang ungekannten Ausmaß das öffentliche Leben und die privaten Lebensstile und Lebenspraxen. Das weitreichende Kontaktverbot als Maßnahme zum individuellen Schutz der Gesundheit jedes Einzelnen und als solidarisches Verhalten zum Erhalt der Gesundheit aller anderen führte und führt in Teilen immer noch dazu, dass vieles von dem, was als selbstverständlich gilt, nicht mehr möglich ist, wenn auch zunehmend in länderspezifisch geregelten Formen und regional u.U. durchaus unterschiedlich.

Maßstab des subjektiven, aber auch des politischen Handelns ist und sollte der bestmögliche Schutz vor der Ansteckung mit dem Coronavirus sein. Der persönliche unmittelbare Austausch zwischen Menschen ist immer noch eingeschränkt, Familien und Freundeskreise tauschen sich weitgehend digital oder per Telefon aus, in Kitas befinden sich auf dem Weg von der Notbetreuung zu einem eingeschränkte Regelbetrieb, Schulen sind für einige Jahrgänge partiell geöffnet, Hochschulen müssen bis auf Weiteres geschlossen bleiben. Besuche in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind nur einem sehr begrenzten Personenkreis zeitlich limitiert erlaubt, die Reisefreiheit wird zur Sommersaison innerhalb Europas unter Auflagen wieder möglich sein, die Versammlungsfreiheit bleibt beschränkt. Arbeitsbeziehungen konkretisieren sich überall dort, wo es möglich ist, über Video- und Telefonkonferenzen, ganze Wirtschaftszweige sind zum Erliegen gekommen, Sport ist weitgehend nur unter strengen Auflagen bzw. ohne Zuschauer/-innen möglich, Großveranstaltungen, Messen, Volksfeste, Festivals u.a. sind abgesagt oder verschoben worden, der Abschied von Verstorbenen ist nur in Maßen eine Angelegenheit mit tröstenden Worten anderer Nahestehender, religiöse Feierlichkeiten und Rituale finden ohne das wichtige Gemeinschaftserleben vieler Gleichgesinnter statt.

Die Bundesregierung, unterstützt und ergänzt durch Maßnahmen der Länder und Kommunen, hat diese fundamentalen Einschränkungen durchgesetzt und gleichermaßen begleitet durch einen außergewöhnlich umfangreichen, mehrfach erweiterten und nachgesteuerten Rettungsschirm, mit dem die Folgen der Pandemie für das Gesundheitssystem, den Wirtschaftssektor, den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt abgefedert und möglichst schnell und unbürokratisch begrenzt werden sollen. Hilfspakete und Ausgleichszahlungen von Bund und Ländern summierten sich im April bereits Hilfspakete und Ausgleichszahlungen von Bund und Ländern summieren sich inzwischen auf 1.173 Milliarden Euro. Diese gigantische Summe verteilt sich auf direkte Zahlungen an Bedürftige, Kreditgarantien für Unternehmen sowie erwartete Mindereinnahmen, die kompensiert werden müssen, wodurch Insolvenzen vermieden und Arbeitsplätze gesichert werden sollen. Zudem rechnen Bund, Länder und Gemeinden wegen des stillstehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens mit erheblichen Steuerausfällen. Schätzungen zufolge könnten sich diese für das laufende Jahr auf mehr als 82,5 Milliarden Euro summieren. Dazu werden Ausfälle bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung kommen. Am 13. Juni hat das Bundeskabinett zudem ein 130 Milliarden schweres Konjunkturprogramm verabschiedet, das bereits am 1. Juli in Kraft treten soll. Die Schuldenbremse ist längst außer Kraft gesetzt. 

Immer wieder wird die befristete Begrenzung von Grundrechten unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse kontrovers diskutiert und politisch legitimiert, zeigt sich Politik in dieser herausfordernden Zeit überaus handlungsfähig. Auch wenn die Stimmen, die eine noch weitgehendere Lockerung der einschränkenden Maßnahmen fordern, stetig lauter werden, kann Politik insgesamt auf eine breite zustimmende Mehrheit der Bevölkerung setzen, die sowohl den persönlichen Einschränkungen gegenüber als auch bezogen auf die (wirtschafts-)politischen Maßnahmen gilt. Schon lange war das Vertrauen in das politische System nicht mehr so groß wie aktuell. Das politische Handeln in Deutschland ist damit meilenweit entfernt sowohl von der dumpfen Logik getwitterter Unwahrheiten und diskreditierender Beschimpfungen des Expertenwissens als Fake News, als auch von rechtspopulistischen Auswüchsen, die die Coronakrise für den weiteren Abbau demokratischer Rechte instrumentalisieren. Nicht zu übersehen ist aber, dass sich auch in Deutschland abstruse Verschwörungsmythen verbreiten, Mahnwachen und so genannte Corona-Demonstrationen einen Zulauf unterschiedlichster Betroffenen- und Interessengruppen erfahren, Rechtspopulisten eine neue Chance wittern, ihr Wähler/-innenpotential zu vergrößern.

Parallel zum politischen Agieren kommt ein gemeinwohlorientierter und zivilgesellschaftlich artikulierter gesellschaftlicher Konsens zum Tragen, der seinen Ausdruck darin findet, dass Menschen in Zeiten des Kontaktverbotes in vielfältigen kreativen Formen dennoch zusammenrücken. Ehrenamtliche Hilfen für einsame und isolierte Menschen, Hofkonzerte, gemeinsames Musizieren und Singen vom Balkon aus, das Nähen von Mundschutzmasken, Spendenaktionen, das Einstehen der Jüngeren für die Älteren, Medizinstudent(inn)en, die das Pflegepersonal in Krankenhäusern unterstützen, Freiwillige, die ihren Dienstort zugunsten des Gesundheitssystems tauschen, Künstler/-innen, die im Netz für Unterhaltung sorgen, Lebensmittelzäune für Bedürftige, erste Hotels, die ihre Türen für Obdachlose öffnen, Held(inn)en des Alltags, die gefeiert werden – dies alles trägt entscheidend mit dazu bei, dass Corona und die das gesellschaftliche Leben lähmenden Reaktionen darauf als bewältigbar erlebt, Zuversicht und Optimismus verbreitet werden, und es gibt nicht wenige, die darin eine sozial-gesellschaftliche Verfassheit der Solidarität erkennen, die es auch nach Corona zu erhalten gilt.  

… UND DIE SOZIALE ARBEIT?

Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Pandemie und ihre Folgen an der Sozialen Arbeit nicht spurlos vorbeigehen können. Und dies in doppelter Hinsicht: zum einen hinsichtlich ihrer eigenen Strukturen, Maßnahmen und Angebote, zum anderen aus der Perspektive ihrer Adressat(inn)en.

Viele der Leistungen der Sozialen Dienste gelten in der aktuellen Situation als systemrelevant, d.h. sie sind unverzichtbar, fallen unter den Rettungsschirm und werden zumindest teilweise auch jetzt erbracht. Ohne jeden Zweifel gilt dies für ambulante und stationäre Pflegeleistungen ungeachtet davon, dass das Personal nicht über die notwendige Schutzkleidung verfügt und vielfach mit der Isolation vor allem älterer Pflegebedürftiger konfrontiert ist. Fortgesetzt wurde die Betreuung von Kindern in Kitas, zunächst für Kinder, deren Eltern in ebenfalls systemrelevanten Bereichen erwerbstätig sind, und für die, wie auf der Ebene der Bundesländer geregelt, als so genannte Kinderschutzfälle vor Kindeswohlgefährdungen in ihrer häuslichen Umgebung geschützt werden müssen. Zunehmend machen sich die Kitas trotz aller Unwägbarkeiten des Infektionsgeschehens auf den Weg hin zu einem Regelbetrieb. Auch die stationären Erziehungshilfen waren und sind weiterhin tätig und dies unter erschwerten Bedingungen, da auch hier die Schutzkleidung fehlt und die jungen Menschen in ihren Lebensmöglichkeiten außerhalb der stationären Einrichtungen durch das Kontaktverbot massiv eingeschränkt und damit auf den Aufenthalt in den Einrichtungen verwiesen sind. Über Einzelfalllösungen hinausgehende Regelungen im Umgang bspw. mit infizierten Adressat(inn)en oder unterstützende Beratung für betroffene und zu schützende Fachkräfte fehlen häufig. Die Sicherstellung des Kinderschutzes bleibt als Verpflichtung auch in Zeiten der Pandemie eine vordringliche Aufgabe der Jugendämter; die Fachkräfte der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe haben vielfach ein gemeinsames Krisenmanagement aufgebaut. Ambulante Dienste werden zu großen Teilen digital erbracht. Um Infektionsketten zu vermeiden, geschieht der Kontakt sozialpädagogischer Fachkräfte zu den Adressat(inn)en bzw. deren Kontaktaufnahme mit den sozialen Diensten über den Ausbau unterschiedlicher Formen der Telefonberatung und Telefonnotdienste, durch digitale Kommunikationsmittel, in Videokonferenzen, über Videotagebücher etc. Die Beantwortung datenschutzrechtlicher Fragen muss teilweise auf die Zeit nach der Pandemie verschoben werden.

Das alles kann regelmäßige persönliche Kontakte und die aufsuchende Arbeit auf Dauer nicht ersetzen. Die fachliche Kreativität der Kinder- und Jugendhilfe im Umgang mit den Herausforderungen durch Corona und ihr sozialpolitisches Handeln dokumentiert sich im Netz unter anderem auf dem Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe und dem Corona-Newsletter sowie auf einer neuen Kommunikations- und Transferplattform. Wer sich hier stets aktuell auf dem Laufenden hält, wird von der mancherorts behaupteten Entschleunigungstendenz durch die Pandemie einen ganz anderen Eindruck gewinnen und einen Einblick in die vielfältigen und professionellen Bemühungen erhalten, die Arbeitsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe aufrecht zu erhalten. Informierte Personen erfahren, dass da, wo eigene Angebote nicht möglich sind, andere relevante Bereiche insbesondere des Gesundheitssystems personell unterstützt werden. Was diese beiden Internetportale aber auch deutlich machen ist, dass es auf viele Fragen noch keine abschließenden Antworten gibt, vielleicht auch noch gar nicht geben kann, und die Verunsicherung in manchen Bereichen der Sozialen Arbeit eher abnimmt als wächst.    

Zunächst ist einmal zu begrüßen, dass mit dem Sozialschutz-Paket (SodEG) die öffentlichen Sozialleistungsträger verpflichtet sind, auch den Bestand solcher Einrichtungen durch Auszahlung von monatlichen Zuschüssen in Höhe von bis zu 75% des Monatsdurchschnitts ihrer üblicherweise erfolgenden Zahlungen abzusichern, die nicht unmittelbar bezogen auf die Corona-Krise tätig werden bzw. tätig werden können. Grundlage hierfür ist der in § 1 SodEG verlangte Einsatz der sozialen Dienstleister zur Krisenbewältigung durch Abgabe einer Erklärung, dass sie für das Gemeinwohl ihre Ressourcen zur Bewältigung der Corona-Pandemie zur Verfügung stellen. Als Ressourcen gelten Räume, Personal, Sachmittelt usw.

Sind die mit diesen Regelungen verbundenen Nachweispflichten u. U. schon für Träger mit entsprechenden eindeutigen Finanzierungsstrukturen mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand verbunden und fehlen verbindliche Antworten auf die Frage, wie mit der Subsidiarität des Bundesschutzschirms gegenüber anderen Finanzierungsquellen umgegangen wird, stellt sich die Aufrechterhaltung der Finanzierung für Träger, die unterschiedliche Finanzierungsquellen haben, alles andere als gesichert dar. Dies trifft z.B. für die Eingliederungshilfen und die Maßnahmen der Frühförderung zu, die Teile ihrer Leistungen aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenkassen finanzieren oder für solche Träger, die auf Einnahmen durch Teilnahmegebühren angewiesen sind und für die das SodEG nur einen löcherigen Schutzschirm aufgespannt zu haben scheint. Betroffen waren bzw. sind hiervon u.a. die Kurse der Familienbildungsstätten, Träger, die Maßnahmen der politischen Bildung an Schulen durchführen, sowie andere Bildungseinrichtungen, Träger, die Schüler/-innenfahrten und Ferienmaßnahmen anbieten, im Auftrag der Arbeitsverwaltung tätig werden, Fort- und Weiterbildungsangebote offerieren. Mutter-Vater-Kind-Kliniken, Rehabilitationsträger, Schullandheime und das Deutsche Jugendherbergswerk sind weitere Einrichtungen, deren Bestand als Teil einer öffentlichen sozialen Infrastruktur alles andere als gesichert ist. Werden hier keine Lösungen gefunden, dann wird gerade diese Infrastruktur nach Beendigung der Pandemie durch erhebliche Ausfälle charakterisiert sein, werden Angebote des non-formalen und informellen Bildungserwerbs weggebrochen sein.

Viele Hilfen im Maßnahmenpaket der Bundesregierung zielen auf Beschäftigte und Familien, die durch das Wegbrechen ihrer Existenzgrundlagen in ihrer materiellen Sicherheit gefährdet und von Armut bedroht sind. Zu diesen Maßnahmen zählen u.a. der erleichterte Zugang zu Kurzarbeitergeld, zum Kinderzuschlag, zur Grundsicherung nach SGB II und SGB XII mit Übernahme von Miete und Mietnebenkosten ohne weitere Prüfung, die veränderten Berechnungsgrundlagen für das Elterngeld, die befristet untersagte Wohnungskündigung aufgrund von Mietschulden, Zuschüsse für (Klein-)Unternehmen, Solo-Selbstständige und Kulturschaffende, die Ermöglichung von Entschädigungszahlungen bei Verdienstausfall durch die notwendige Betreuung von Kindern aufgrund behördlich angeordneter Kita- oder Schulschließungen; Studierende und Schüler/-innen, die auf Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) angewiesen sind, sollen keine finanziellen Nachteile haben, wenn Unterrichts- und Lehrangebote an ihrer Ausbildungsstätte bzw. Hochschule verschoben werden. Auch in all diesen Fällen haben Politik und Verwaltung schnell und handlungsfähig reagiert, Anerkennung und Dank verdient.

Trotzdem mehren sich die mahnenden Stimmen, die zurecht darauf verweisen, dass zwar der Schutz vor dem Abrutschen in Armut ausgebaut worden ist, bereits benachteiligte Haushalte und Personen sich aber mit weiteren Belastungen konfrontiert sehen, die nicht kompensiert werden. So stellt das Homeoffice nur für solche Menschen einen adäquaten Arbeitsplatz dar, die nicht wie viele Alleinerziehende aufgrund der Kitaschließungen parallel auch noch die Betreuung ihrer Kinder organisieren müssen, Homeschooling ist auf Eltern angewiesen, die den Bildungserwerb begleitend unterstützen, das Fehlen geeigneter interaktiver Lernstoffe kompensieren und in die Sphäre des privaten Raums eine Struktur öffentlicher Bildungsräume integrieren können. Dies alles setzt entsprechende Wohnverhältnisse und ausreichende Netzkapazitäten sowie die Ausstattung mit entsprechenden Endgeräten voraus. Die Schließung der Kitas und der Schulen, der einschneidende Verlust sozialer Kontakte ist für alle Familien und junge Menschen, die jetzt erfahren, was es heißt auf die Kernfamilie angewiesen zu sein,  eine außergewöhnliche und herausfordernde Situation. Der Wegfall außerschulischer Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten führt so manche Familien an ihre Belastungsgrenzen - noch nie hat die Forderung „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ so sehr ihre Berechtigung gehabt wie gerade jetzt. Besonders aber für diejenigen, die schon vor Corona von Bildungsbenachteiligung betroffen waren, stellt die augenblickliche Situation der Konzentration auf die Kernfamilie in beengten Verhältnissen einhergehend mit Existenzängsten, dem Wegfall des kostenlosen Essens in Kita und Schule und sehr eingeschränkten Möglichkeiten von Aktivitäten außerhalb der Wohnung eine Belastungsprobe dar, die zu einer Verschärfung der ohnehin vorhandenen Benachteiligungen beitragen kann. Sozialpädagogische Fachkräfte und Fachverbände warnen vor der Zunahme häuslicher und sexualisierter Gewalt, der psychischen Überforderung der Familien. Letztendlich zeigt sich in dieser Situation, dass soziale Sicherheit insgesamt und der Abbau von Bildungsbenachteiligung im Besonderen trotz des Ausbaus der öffentlichen sozialen Infrastruktur abhängig geblieben ist von stabilen privaten Unterstützungsleistungen. Da, wo Großeltern ihre Enkel/-innen nicht mehr besuchen dürfen, bekommt die Kinderbetreuung Lücken, da, wo Eltern Leistungen der Schule erbringen sollen, zeigt sich das ganze Dilemma der Bildungsungleichheit, da, wo Kinder ihre pflegebedürftigen Angehörigen nicht mehr sehen können, werden Pflegeeinrichtungen trotz des enormen Engagements der Pfleger/-innen zu Orten der Isolation und Vereinsamung.

Letztendlich mehr oder weniger auf sich alleine gestellt sind besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen: Wohnungs- und Obdachlose, Straßenkinder, Drogenabhängige, Geflüchtete in Sammelunterkünften, Menschen, die regelmäßig die Tafeln aufsuchen, und andere höchst vulnerable Gruppen. Bei aller Begeisterung und Wertschätzung, die das soziale Engagement und die ehrenamtlichen Unterstützungsstrukturen völlig zu Recht ausgelöst haben, es bleibt der fade Beigeschmack, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die zu dieser privaten Hilfe kaum öffentliche Alternativen der Unterstützung haben. Und auch wenn das Coronavirus selbst keinen Unterschied zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen macht, die Covid-19 Pandemie betrifft nicht alle gleich, da die Chancen des Schutzes vor dem Virus und die Möglichkeiten der Folgenbewältigung ungleich sind. Erste Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von sozialer Benachteiligung und der Infektionsgefahr mit Covid-19 belegen für die Bundesrepublik bereits vorliegende Erkenntnisse aus Großbritannien und den USA: Patient(inn)en aus einkommensschwachen Verhältnissen sind deutlich häufiger infiziert. Schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, beengter Wohnraum, keine Möglichkeiten der Arbeit im Homeoffice erhöhen das Infektionsrisiko um ein Vielfaches. Vor allem ALG-II-Empfänger/-innen sind überproportional betroffen. Covid-19 hat also durchaus eine Komponente sozialer Ungleichheit, die es bei den Maßnahmen gegen die Pandemie zu berücksichtigen gilt.

… WAS PERSPEKTIVEN NACH CORONA SEIN KÖNNTEN

Derzeit werden immer mehr Schritte realisiert, mehren sich die Stimmen, die einen Fahrplan für die schrittweise Rückkehr zur Normalität beinhalten, wobei noch nicht abzusehen ist, wie lange die Pandemie anhalten wird und wann ein Impfstoff für Schutz sorgen kann. Einigen gehen diese Schritte nicht schnell genug, andere befürchten eine voreilige Rückkehr mit der Gefahr einer erneuten Infektionswelle. Aber was heißt in diesem Zusammenhang Normalität? Klar ist, dass die Einschränkung von Grundrechten nur eine temporäre Angelegenheit sein kann. Klar ist auch, dass über einen längeren Zeitraum und nach Altersgruppen gestaffelt Kitas, Schulen und Hochschulen wieder geöffnet und auch andere Bildungsinstitutionen und soziale Dienste wieder zugänglich werden, das Wirtschaftsleben an Fahrt aufnimmt, religiöse Einrichtungen allen offen stehen und auch kulturelle Angebote irgendwann wieder ganz selbstverständlich zum Lebensalttag dazugehören werden, soziale Kontakte ihre Selbstverständlichkeit wiedererlangen. Die Annäherung an die gewohnten Praktiken des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens, der gegenseitigen Sorge und des sozialen Austausches ist alles andere als voraussetzungslos. Letztendlich schwingt dabei auch immer die Herausforderung mit, das Primat der Gesundheit Aller gegenüber wirtschaftlichen Interessen verteidigen oder zumindest verschiedene Interessenlagen ausbalancieren zu müssen. 

Wirft man vor diesem Hintergrund einen eher vorsichtigen Blick auf Perspektiven, die sich im Anschluss an Covid-19 ergeben könnten, dann müssen solche Perspektiven an Erfahrungen der Pandemie anknüpfen.

Die ungleiche Belastung mit den Folgen der Covid-19 Pandemie fordert zu einer erneuten und nachdrücklichen Verhältnisbestimmung des Aufwachsens in privater und des Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung als Antwort auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit heraus. Kitas, Schulen und soziale Dienste als Bestandteil einer sozialen Infrastruktur müssen in ihrem Leistungsvermögen unabhängiger von den jeweiligen familialen Ressourcen werden. Damit soll das, was Familien gerade in dieser herausfordernden Zeit geleistet haben und immer noch leisten, auf keinen Fall geschmälert werden, aber die Abhängigkeit der sozialen Teilhabe von dem Leistungsvermögen der Familien birgt die Gefahr einer Zementierung sozialer Ungleichheiten. Es wird darauf ankommen, den quantitativen und qualitativen Ausbau der ganztägigen Betreuung, Bildung und Erziehung auch dann umzusetzen, wenn die Bilanzierung der Mehrausgaben und Einnahmeverluste der Pandemie offensichtlich werden. Und mehr noch: auch die Ausstattung mit digitalen Medien und Zugängen muss für Familien in prekären Lebenssituationen Teil der öffentlichen Daseinsversorgung werden. Zu hoffen bleibt außerdem, dass die erlahmten Debatten über eine Kindergrundsicherung als Folge der langfristigen Auseinandersetzung mit Corona wieder an Fahrt aufnehmen und zu einem Ergebnis führen, das materielle Armut von Kindern und ihre Folgen tatsächlich bewältigbar macht.

Die in der Pandemie aufkommende Frage, was systemrelevant ist und was nicht, lässt sich für das Gesundheitssystem schnell beantworten. Für andere soziale Dienstleistungen sind Antworten komplexer und tangieren die Verhältnisbestimmung von Wohlfahrtspflege und Politik immer dann, wenn mögliche politische Antworten sich daran orientieren, welche gemeinwohlorientierte Leistungen auch in Pandemiezeiten unverzichtbar sind, also weiterhin erbracht werden müssen, welche Leistungen in reduzierter oder veränderter Form erbracht werden können und welche Leistungen grundlegend nicht zu erbringen sind. So ist selbstverständlich, dass Kitas systemrelevant für die Notbetreuung von Kindern sind und Kinderschutz wie Gewaltprävention auch und teilweise gerade in Coronazeiten eine vordringliche Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sind. Selbstverständlich ist ebenso, dass stationäre Erziehungshilfen nicht geschlossen werden können und ambulante erzieherische Hilfen in teils digitaler Form angeboten werden. Anders verhält es sich mit Aufgaben, die die Kinder- und Jugendhilfe u.a. an Schulen wahrnimmt, die in der offenen Kinder- und Jugendarbeit verankert sind, die Angebote politischer Bildung oder der Familienbildung, der Kinder- und Jugendpolitik betreffen. Dass Kinder- und Jugendhilfe mehr ist als Kindertagesbetreuung und Hilfen zur Erziehung galt vor der Pandemie als Selbstverständlichkeit und sollte auch nach der Pandemie eine Selbstverständlichkeit sein. Dies setzt allerdings voraus, dass auch solche Strukturen in einem gemeinsamen, konsensuellen Aushandlungsprozess von Politik und Wohlfahrtspflege erhalten bleiben müssen, die in Zeiten des Kontaktverbotes keine Dienste erbringen können.

Eine der wesentlichsten Erfahrungen in der Pandemie ist, dass Gesundheit einen Wert darstellt, der für alle gleichermaßen gelten muss und der nicht unter marktförmigen Bedingungen produziert werden kann. Die strukturelle Tragfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems in diesen Krisenzeiten verdankt sich neben dem außerordentlichen Einsatz des medizinischen Personals in einem nicht unerheblichen Umfang der Idee, dass Gesundheit ihren Preis hat und eine Politik der Ausgabenbegrenzung sich an dem Maßstab einer Gesundheit für alle messen lassen muss. Gleichzeitig offenbaren sich Mängel, die auf eine aus Kostengründen eingeführte mangelhafte Vorratshaltung, eingeschränkte Ausstattung und einseitige Abhängigkeit von globalisierten monopolartigen Produktionsketten der Medikamente und medizinischen Ausstattung zurückgeführt werden können. Erwartet werden kann hier, dass die Lehren aus dieser Situation so gezogen werden, dass eine vorausschauende Ausstattung des Gesundheitssystems und der Versorgung mit medizinischen Gütern wieder unabhängiger von globalen Playern stattfinden kann. Lehren sollten auch daraus gezogen werden, dass es trotz Pflegenotstand in Zeiten der Pandemie keine Einbrüche in die Leistungsfähigkeit der Pflege gegeben hat. Nun sollen Beschäftigte im stationären und ambulanten Pflegesektor in Vollzeit mit dem Juli-Gehalt eine Sonderprämie von 1.500 Euro erhalten, Teilzeitbeschäftigte einen Anteil entsprechend ihrer tatsächlich geleisteten Stunden. Damit findet die Wertschätzung des Pflegepersonals nun auch materiell ihren mehr als nur verdienten Ausdruck. Langfristig wird man aber Antworten auf die Frage finden müssen, wie der allabendliche Applaus für diese – und andere – Held(inn)en des Alltags sich auch dauerhaft auf dem Gehaltszettel wiederfindet.

Eine offensichtliche Folge der Pandemie ist ein enormer Digitalisierungsschub sowohl in Bezug auf die alltägliche Kommunikation als auch im Kontext digitaler Bildungs- und Arbeitsformen. Die Nutzung digitaler Kommunikationsmedien kann analoge soziale Praxen der Kommunikation aber nur beschränkt substituieren und wird von vielen daher als lediglich befristeter Ersatz gehandhabt. Beim Homeschooling zeigen sich Grenzen zum einen hinsichtlich der Überforderung von Eltern als Hilfslehrer/-innen und der Verstärkung bildungsbenachteiligender Aspekte, zum anderen wird Schule auf den Faktor der Wissensvermittlung reduziert und ihrer sozialen, non-formalen und informellen Bildungsprozesse beraubt. Das kreative Engagement vieler (Hochschul)Lehrer/-innen kann zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass geeignete Formate des E-Learnings vielfach erst noch entwickelt werden müssen, deren Umsetzung zudem auf den beschleunigten Ausbau einer digitalen Infrastruktur angewiesen bleibt. Auch im Kontext der sozialen Dienste zeigt sich ein ungleicher Ausbaustand digitalisierter Angebotsformen, die zudem der Komplexität datenschutzrechtlicher Fragen gewachsen sein müssen. Das Unbehagen an dem Wegbrechen unmittelbarer Kontakte mit den Adressat(inn)en führt zudem dazu, dass die Euphorie, mit der so mancher die Digitalisierungsstrategie der Träger sozialer Dienste forcieren wollte und mit der die Digitalisierung als Lösung struktureller Probleme bspw. der Erreichbarkeit sozialer Dienste in dünnbesiedelten ländlichen Regionen diskutiert worden ist, einen Dämpfer erlitten hat. Stattdessen gilt es sehr genau auszubalancieren, welche Dienstleistung unter welchen Voraussetzungen digital angeboten werden kann und welche Unterstützungsformen ihre Wirkung nur in analoger Form entfalten können. Das Homeoffice als neuer Arbeitsplatz war dabei schon vor der Pandemie in einem beschränkten Umfang gelebte Realität. In der Pandemie zeigt sich allerdings verstärkt die Begrenztheit digitaler Arbeitsformate, wenn soziale Dimensionen des gemeinsamen Arbeitens auf ein Minimum eingeschränkt sind. Wenn die Grenzen von Arbeits- und Privatsphäre immer uneindeutiger werden, dann besteht außerdem die Gefahr, dass Rückzugsräume der Nichterreichbarkeit, der Erholung und eine Alltagsstrukturierung jenseits von Erwerbsarbeit verloren gehen. Digitales Arbeiten ist von daher wie analoges Arbeiten auch auf eine adäquate Ausstattung des Arbeitsplatzes, auf Arbeitsschutz, geregelte Arbeitszeiten und Pausen verwiesen.  Es setzt neben der materiellen Ausstattung die Kompetenz der eigenständigen Strukturierung von Räumen der Erwerbsarbeit und der Freizeit voraus.

Die Bedeutung mancher als selbstverständlich wahrgenommener Angebote zeigt sich teilweise erst dann, wenn sie nicht mehr zur Verfügung stehen. So ist zu beobachten, dass das kulturelle Leben in Deutschland in Zeiten, in denen es völlig zum Erliegen gekommen ist, existentiell bedroht ist, zum Teil aber auch ganz neue Wege der Präsentation eingeschlagen hat. Sportveranstaltungen, Konzerte, Theater, Museen, Festivals, Kleinkunstbühnen, Volksfeste und andere öffentliche Veranstaltungen, vielfach auch Buchhandlungen waren bzw. sind geschlossen oder abgesagt worden. Gleichzeitig tragen die so genannten Kulturschaffenden gerade in Zeiten eingeschränkter Kontaktmöglichkeiten auf unterschiedlichste Art und Weise zu Entspannung, Abwechslung und Heiterkeit bei. Es bleibt zu hoffen, dass die Anerkennung, die das kulturelle Engagement aktuell erfährt, sich auch nach dem Ende der Pandemie in Förderstrukturen und Besucher/-innenzahlen wiederspiegelt.

... COVID-19 MACHT VOR KEINER GRENZE HALT

Bei aller Wertschätzung und bei allem Dank für nationalstaatliche Lösungen zeigt sich, dass angesichts eines grenzenlosen Virus internationale Wege der Bekämpfung und der Folgenabwehr eingeschlagen werden müssen. Mehr als nur geschmacklose und egozentrische Versuche, medizinische Erkenntnisse der Bekämpfung des Virus einem internationalen Zugang durch finanziell gesteuerte Deals zu entziehen, bedürfen keiner Kommentierung.

Abzuwarten bleibt, inwieweit ein Impfstoff gegen Covid-19 tatsächlich allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Lage zur Verfügung stehen wird. Das Ringen um einen europäischen Weg der Unterstützung besonders betroffener Länder hat bereits deutlich gemacht, wie holperig und steinig der Weg ist, der auch in dieser Situation an der Idee einer wertegebundenen, demokratischen europäischen Identität festhält. Dabei ist die mehr als nur schwierige Lage in Entwicklungsländern noch gar nicht mit einbezogen worden, hat die Aussichtslosigkeit, die Infektion mit Covid-19 in Flüchtlingslagern zu verhindern, bislang zu keinen einschneidenden Veränderungen der Flüchtlingspolitik geführt. Globales Handeln muss mehr sein als die Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe zu fördern. Einerseits erfährt globales Wirtschaften Grenzen, wenn angesichts der Pandemiebekämpfung Grenzschließungen Warenströme versiegen lassen, ein vielleicht heilsamer Lernprozess für all diejenigen, die meinen, mit dem Hochziehen von Mauern Politik machen zu können. Globales Handeln, das kann die Pandemie lehren, muss Abschied nehmen von der Vorstellung, dass der Markt alles regeln kann, muss einsehen, dass ein politisch gesteuerter Prozess des Wirtschaftens überlebensnotwendig ist, der an nachhaltigem Produzieren und Konsumieren orientiert ist. Schließlich ist eine der wenigen positiven Folgen der Pandemie, dass der Klimawandel ungewollt Fortschritte gemacht hat, Fortschritte, die nicht leichtfertig wieder aufgegeben werden sollten.

Schlussendlich lehrt Covid-19 aber vor allem, dass tatsächlich praktizierte Solidarität im Alltag aller betroffenen Menschen unverzichtbar ist, gelebte Gemeinwohlorientierung, Nächstenliebe und privates Engagement aber von dem strukturell rahmenden Moment einer demokratisch verfassten und sozialstaatlich fundierten Weltbürger/-innengesellschaft getragen werden müssen.  Zu hoffen bleibt schließlich, dass ein Impfstoff vielleicht schon im kommenden Jahr Covid-19 ein Ende bereitet, ein Ende, das eine solche Weltbürger/-innengesellschaft , aber auch allen anderen kleineren sozialen Zusammenhänge, Institutionen und Organisationen nicht aus der Verantwortung entlassen sollte, Antworten auf die Fragen zu finden, welche negativen und positiven Schlussfolgerungen man aus der Pandemie ziehen kann und muss, was uns die Pandemie gelehrt hat und welche Veränderungen auch mit Impfschutz fortsetzungswürdig sind. Die Rückkehr zur Normalität muss in diesem Sinne dann nicht die Rückkehr zu einer alten Normalität sein. 

Redaktion: Kerstin Boller

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