Hilfen zur Erziehung

SOS-Kinderdorf: Kinder- und Jugendhilfe in Corona-Zeiten

Benachteiligte junge Menschen sind von der Pandemie besonders betroffen. Die Krise verschärft ihre ohnehin prekären Lebenslagen – oder anders gesagt: Die Corona-Einschränkungen beschleunigen soziale Ungleichheit. Darauf verweist Dr. Kristin Teuber, Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts, SOS-Kinderdorf e.V., in ihrem ausführlichen Beitrag.

08.06.2020

Das Coronavirus mit seinen Auswirkungen stellt das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben auf den Kopf: Die gesamte Bevölkerung ist davon betroffen in einem Ausmaß, das man sich vor wenigen Monaten nicht hätte vorstellen können. Zunächst ist es mit den strengen Regelungen des Lockdowns gelungen, die schnelle Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Doch das weitere Infektionsgeschehen wird bis ins kommende Jahr hinein die politische Steuerung von Bund, Ländern und Kommunen bestimmen. Dabei ist vorerst mit vielen Unbekannten zu rechnen, ist „auf Sicht zu fahren“ – denn belastbare Vorhersagen stehen noch immer kaum zur Verfügung. Zwei Dinge sind jedoch klar: Die Pandemie wird gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen haben in sämtlichen Gesellschaftsbereichen und für alle Bürger/-innen, wobei die Lasten unterschiedlich verteilt sind. Und nicht zuletzt werden sich Verteilungsfragen neu stellen angesichts von immensen staatlichen Ausgaben für Schutzpakete und von zugleich wegbrechenden Steuereinnahmen.

Krisenzeit verschärft prekäre Lebenslagen

Die Krise trifft einzelne Menschen bzw. Familien unterschiedlich hart – noch gibt es bundesweit keine verlässlichen Zahlen dazu. Gleichzeitig sind die ökonomischen und psychosozialen Ressourcen für den Umgang mit der Krise ungleich verteilt. Durch die Corona-Beschränkungen in der Arbeitswelt sowie die Schließung öffentlicher Bildungsinstitutionen geraten besonders Familien unter Druck: Eine Mischung aus Existenzsorgen, beengten Lebensverhältnissen, wenig Rückzugsmöglichkeiten, Dauerbelastung und Überforderung in der Krise setzt ihnen zu – insbesondere in erschwerten Lebenslagen. In der Folge nimmt häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder zu. Die vielschichtige Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus belasteten Familien ist eine weitere Folge: Ihnen fehlen Bildungszugänge und die Unterstützung beim Homeschooling, die Essensversorgung in Kita oder Schule wie auch Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Außerdem entbehren sie Peers sowie Erwachsene außerhalb der eigenen Familie, mit denen sie in Beziehung stehen und die ihr Wohlbefinden im Blick behalten. 

Und Heranwachsenden, die sich entsprechend ihres Alters in Übergängen befinden zwischen Kita, Schule, Ausbildung oder Berufseinstieg, bringt die Corona-Krise jähe Unterbrechungen im Lebenslauf. Sie verbaut Chancen. Besonders verletzliche junge Menschen bekommen dies deutlich zu spüren, etwa wenn Care-Leaver und junge Wohnungslose beim Fußfassen im Erwachsenenleben noch weniger Unterstützung erhalten als sonst: Bedingt durch die Corona-Maßnahmen sind viele niedrigschwellige Anlaufstellen vorübergehend geschlossen, und berufliche Bildungsmaßnahmen finden derzeit meist nur online statt.

Adressat/-innen der Kinder- und Jugendhilfe sind von den Pandemie-Folgen erheblich betroffen. Die Krisenzeit verschärft ihre ohnehin prekären Lebenslagen – oder anders gesagt: Die Corona-Einschränkungen beschleunigen soziale Ungleichheit. Die Exit-Strategien für die Wirtschaft oder das schrittweise Wiedereröffnen von Bildungseinrichtungen werden daran auf die Schnelle nichts ändern.

Jugendhilfe im Krisenmodus

Die Kinder- und Jugendhilfe war auf die Corona-Situation nicht vorbereitet und hatte kurzfristig in den Krisenmodus zu wechseln. Alle öffentlichen und freien Träger, mithin die obersten Jugendbehörden befassen sich seitdem mit der Frage, wie die üblichen Verfahren und Alltagsabläufe zunächst während des Lockdowns mit Kontaktverboten, und wie inzwischen die langsame Wiedereröffnung mit Hygienevorschriften und Abstandsregeln umzusetzen sind. Bisher nie da gewesene Anforderungen in der Pandemie haben vielerlei Verunsicherung gebracht: infektiologisch, fachlich, rechtlich, finanziell, organisational und personalplanerisch – erst recht in einem durch und durch beziehungsorientierten Handlungsfeld, in dem die physische Präsenz der Mitarbeiter/ -innen grundlegend ist. Im Alltag der Kinder- und Jugendhilfe holpert es (vorübergehend) spürbar, obwohl ihre zentralen Aufgaben zu keiner Zeit in Frage standen.

Inzwischen kehrt langsam eine Art „Normalität in der Krise“ ein: Kinderschutz erfolgt unter den Vorgaben des Infektionsschutzes; Hilfeplangespräche und Elternkontakte, anfangs oft ausgesetzt, finden wieder persönlich mit Abstand statt. Stationäre Erziehungshilfen stellen sich auf die Lockerung der Corona-Maßnahmen ein – mit eingeschränktem Kita- und Schulbesuch der jungen Menschen – und machen sich zugleich auf den Infektions- und Quarantänefall gefasst. Offene Angebote und Beratung finden vielfach digital oder auch im Freien statt. So entstehen flexible und kreative Übergangslösungen, um Kinder, Jugendliche und Familien so gut es geht durch die Krise zu begleiten. Mit großem Engagement stellen sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe den Herausforderungen, organisieren ihre pädagogische Arbeit um, entwickeln zudem Hygienekonzepte und machen so Vieles möglich. Und dennoch schränken die Corona-Maßnahmen ihr fachliches Handeln im Alltag erheblich ein. Mit welcher Komplexität sie es zu tun haben, zeigt sich gerade bei der Wiedereröffnung von Kindertagesstätten: Möglichst vielen Kindern (und Eltern) soll schnell ein Bildungs- und Betreuungsangebot zur Verfügung stehen, das gesundheitlich unbedenklich ist. Organisational ist dies jedoch ausgesprochen aufwendig und muss mit weniger Personal als sonst bestritten werden.

Kinder- und Jugendhilfe und Corona: Balancen herstellen, fachliche Standards halten, jungen Menschen eine Stimme geben

Die Kinder- und Jugendhilfe wird noch eine Weile im Corona-Krisenmodus arbeiten, neue Übergangslösungen entwickeln und diese immer wieder anpassen. In allen Angebotsbereichen ist dabei den hygienischen Vorgaben zu folgen, um das Infektionsrisiko für alle Beteiligten so gering wie möglich zu halten. Aber: Gesundheitsschutz muss mit guten Entwicklungsmöglichkeiten für Heranwachsende in eine Balance gebracht werden. Junge Menschen können ihre Entwicklung nicht auf später verschieben. Ihr Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung, auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit gilt jetzt – auch in der Krise – und ist so weit wie möglich umzusetzen. Gerade auch in schwierigen Zeiten wollen und sollen Kinder mit ihren Anliegen und Sorgen Gehör finden und ihre Lebensbereiche mitgestalten können.

Die Umsetzung von Corona-Auflagen unterscheidet sich kommunal je nach dem Infektionsgeschehen vor Ort. Und die finanzielle Not wird Kommunen dazu zwingen, erhebliche Einsparungen vorzunehmen. Dadurch wird die Jugendhilfe, wie viele andere Bereiche auch, erheblich unter Druck geraten. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die fachliche Qualität von pädagogischen Maßnahmen umfassend abgesenkt wird; vielmehr muss die Verantwortungsgemeinschaft vor Ort auch weiterhin aushandeln, welche Hilfen für wen erforderlich und angemessen sind. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in schwierigen Lebenslagen brauchen die Unterstützung der Jugendhilfe – jetzt mehr denn je. Sie sind darauf angewiesen, dass sie die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Anerkannte Standards müssen jederzeit die Richtschnur fachlichen Handelns bleiben.

Die Lebenssituation von jungen Menschen insgesamt, ihre Bedürfnisse und ihre Belange, haben während der Corona-Pandemie bislang keine bedeutende Rolle gespielt. Politische Prioritäten werden kaum zu ihren Gunsten gesetzt. Dabei wirkt sich die Krise erheblich auf ihr Leben, auf ihre Zukunft aus: Kontaktbeschränkungen begrenzen ihre Spielräume im Alltag, Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten stehen nur eingeschränkt zur Verfügung, Zukunftspläne sind mit einem Mal durchkreuzt. Und die junge Generation wird die wirtschaftlichen und sozialen Folgen auf lange Sicht zu tragen haben. 

Es ist deshalb an der Zeit, dass die Interessen aller jungen Menschen im staatlichen Handeln mehr berücksichtigt werden, dass ihre Perspektive in künftigen Diskussionen um Verteilungsfragen gestärkt und ihre gesellschaftliche Teilhabe gesichert wird. Wo bleibt die nötige politische Entschlossenheit, um die Bildungsbenachteiligung und Armut von einer großen Zahl an Kindern und Jugendlichen abzubauen? – Eine Benachteiligung wohlgemerkt, die lange bekannt ist und sich in der Corona-Krise noch verschärft! Es ist Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, jungen Menschen eine Stimme zu geben und dazu beizutragen, dass sie in Politik und Gesellschaft vernommen wird.

Autorin: Dr. Kristin Teuber, Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts, SOS-Kinderdorf e.V.

Weitere Beiträge zu diesem Thema finden Sie im Themenschwerpunkt „Corona: Jugendhilfe im Krisenmodus“ des SOS-Kinderdorf e.V.

Quelle: SOS-Kinderdorf e.V.

Redaktion: Annika Klauer

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