Coronavirus
Interview: Warum Infektionskrankheiten wie das Corona-Virus ein Seismograf des Sozialen sind
Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus führten zu Veranstaltungsabsagen, Schließungen von Schulen, Kitas und Museen sowie auch Hamsterkäufen in Supermärkten: Das öffentliche Leben kam mehr und mehr zum Erliegen, und die Unruhe in der Bevölkerung nahm zu. Prof. Dr. Malte Thießen, Historiker und Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, erklärt im Interview, woher die Angst vor Seuchen kommt, welche historischen Beispiele es gibt und warum Seuchen ein Seismograf des Sozialen sind.
15.04.2020
Seuchen schüren gewaltige Ängste, weil sie jeden treffen können
Herr Thießen, worin begründet sich die Angst vor Seuchen in der Gesellschaft?
Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten: Sie schüren gewaltige Ängste, weil sie jeden treffen können. Mitmenschen mutieren auf einmal zu Bedrohungen, Familie und Freunde hingegen zu schutzlosen Opfern. Die Seuche - das sind immer die Anderen. Bei der aktuellen Pandemie sind die Ängste umso größer, weil das Virus neu ist. Neue Krankheiten wirken immer bedrohlicher als bekannte. Der zurzeit gängige Vergleich mit der saisonalen Influenza bietet dafür ein Beispiel. So zynisch es klingen mag: Wir haben im Grunde gelernt, mit den Toten der Grippe zu leben - obwohl es gegen diese Krankheit Impfungen gibt.
Warum ist die Angst gerade vor dem Corona-Virus so groß?
Das Neuartige befördert außerdem die Verbreitung von Vermutungen und Verschwörungstheorien, die im digitalen Zeitalter schnell "viral gehen". Menschen möchten das Unbekannte einordnen, um Sicherheit zu gewinnen und ihr Leben planen zu können - ein ganz natürlicher Prozess. Leider greifen wir dabei mitunter auf Stereotype und Deutungen zurück, die wenig mit der medizinischen Lage, sondern mehr mit unseren Weltbildern zu tun haben. Sorgen vor Migranten oder "Randgruppen", vor gewinnsüchtigen Pharmaunternehmen, vor einem allmächtigen oder vor einem hilflosen Staat befördern die Ängste. Diese Ängste sind dann mitunter ebenso gefährlich wie die Seuche selbst, wie die gegenwärtigen Hamsterkäufe von Sterilisationsmitteln und Schutzmasken zeigen.
Welche historischen Beispiele für Seuchenausbrüche gibt es?
Besonders beliebt sind momentan Bezüge auf die Pestpandemien der 1340er Jahre oder auf die Spanische Grippe von 1918/19. Diese Liste des Grauens lässt sich aber problemlos auch für die jüngere Zeit fortsetzen. So forderten Kinderlähmung und Diphtherie bis in die 1960er Jahre tausende Opfer, vor allem unter Kindern. Noch in den 1970er Jahren wurden immer wieder die Pocken in die Bundesrepublik eingeschleppt, der Ausbruch von AIDS/HIV in den 1980er Jahren wiederum forderte ebenfalls unzählige Tote.
Was lässt sich aus dieser Geschichte für die Gegenwart lernen?
Die Seuchengeschichte macht die Gefahren von Stereotypen sichtbar. Während der Pestepidemien gerieten beispielsweise immer wieder die jüdischen Einwohner von Städten ins Visier. Sie wurden als Pestbringer ausgegrenzt und sogar ermordet. Es wäre aber zu einfach, solche Ausgrenzungen nur auf ein "finsteres Mittelalter" zu reduzieren. Die Ausgrenzungen von Schwulen in den 1980er Jahren, in denen AIDS als Homosexuellen-Seuche Schlagzeilen machte, sind ein nicht minder abschreckendes Beispiel für ganz reale Bedrohungen, die von Stereotypen ausgehen. Wir sollten also vorsichtig sein mit vorschnellen Zuschreibungen und Stereotypen und uns bewusstmachen, dass Menschen noch heute ausgesprochen mittelalterlich reagieren können.
Was für Bekämpfungsstrategien stehen damals wie heute im Fokus? Wie sollte die Politik reagieren?
Isolation und Quarantäne sind seit Jahrhunderten das beliebteste Mittel der Seuchenbekämpfung. Bereits während der Pestzüge wurden ganz Städte und Landstriche abgeriegelt. Allerdings gibt es aus historischer Perspektive auch Schwierigkeiten mit dieser Strategie. Schon für das 13. und 14. Jahrhundert finden wir Belege, dass sich Bevölkerungskreise aus der Isolation freikauften oder Waren- und Menschenströme nicht konsequent kontrolliert wurden. In der Moderne ist der Erfolg von Isolations- und Quarantänemaßnahmen fragwürdiger denn je. Selbst in China, das heute wegen seiner rigiden Maßnahmen gegen Corona oft als Vorbild gepriesen wird, griffen die Isolationsmaßnahmen nach Ansicht vieler Virologen zu spät. Eine schnelle Isolation lokal klar eingrenzbarer Seuchenherde ist selbstverständlich sinnvoll. Im globalen Zeitalter sind derart klar eingrenzbare Seuchenherde aber eine seltene Ausnahmeerscheinung.
Gibt es denn noch andere Bekämpfungsstrategien?
Sinnvollere politische Maßnahme sind daher eine offensive Aufklärungsarbeit und die Verstärkung gesundheitspolitischer Strukturen. Den Kampf gegen eine Pandemie müssen wir alle führen. Der Erfolg der Seuchenbekämpfung hängt ganz wesentlich von unserem alltäglichen Verhalten ab. Dafür müssen wir gut informiert sein und Handlungsmöglichkeiten kennen. Die Verstärkung gesundheitspolitischer Strukturen ist selbstverständlich jederzeit wichtig, in Seuchenzeiten aber besonders gefragt.
In Ihren wissenschaftlichen Studien beschreiben Sie "Seuchen als Seismograf des Sozialen". Wie sozial ist der aktuelle Umgang mit dem Corona-Virus?
Tatsächlich halte ich Seuchen für einen Seismografen des Sozialen, der Erschütterungen der Gesellschaft sichtbar macht. Seuchen sind ein Stresstest für die Gesellschaft. Sie legen soziale Bindekräfte, Verwerfungen und Konflikte offen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hinterlässt dieser Stresstest einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits sind krude Verschwörungstheorien, Hetze gegen Minderheiten als Seuchenherde, aber auch die Hamsterkäufe medizinischer Ressourcen ein Signal für Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Andererseits sehen wir gerade im sozialen Nahbereich viele Formen solidarischen und verantwortungsvollen Verhaltens, das uns Mut machen und Vorbild sein sollte: Das Einkaufen für ältere Menschen im Nachbarhaus, die Unterstützung von Pflegekräften und Ärzten oder die umsichtige Selbstisolation potenziell Erkrankter zeigt dann vielleicht doch, dass wir aus der Seuchengeschichte gelernt haben.
Eine etwas ausführlichere Version des Interviews ist als Podcast erschienen: www.lwl-regionalgeschichte.de/de/Projekte/podcast-reihe
Der LWL im Überblick
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 17.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 116 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
Quelle: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) vom 18.03.2020
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