Jugendpolitik

Jugendgerechte Netzpolitik: Warum der digitale Wandel die jugendpolitische Agenda berührt

Der digitale Wandel erfordert nicht nur Veränderungen in der pädagogischen Praxis und Organisation, sondern muss auch die politische Agenda berühren. In seinem Statement beschreibt Ingo Dachwitz Herausforderungen und Gestaltungsnotwendigkeiten in unterschiedlichen netzpolitischen Bereichen aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Der Gastbeitrag dokumentiert einen Workshop des Autors im Rahmen der Fachtagung "Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe" am 5./ 6. Dezember 2016 in Berlin.

06.03.2017

Cybermobbing, Happy Slapping, Grooming, Onlinesucht – wenn es in gesellschaftlichen Debatten um "die Jugend" und "das Netz" geht, sind Schlagworte wie diese oft nicht weit. Wenn nicht gerade auf die besondere Kompetenz junger Menschen im Umgang mit dem Digitalen verwiesen wird, wird vor allem über Gefährdungslagen und Bildungsbedarfe gesprochen. Dabei wäre es an der Zeit, die junge Generation bei der Aushandlung von Regeln für die digitale Gesellschaft einzubeziehen.

Repräsentationsdefizit und Beteiligungsmissstand

Als Impulsgeber und Mitgestalter kommen Heranwachsende auch in anderen Politikbereichen kaum zum Zug. In der Netzpolitik fällt dieser Missstand allerdings besonders auf. Einerseits weil die Organisationen und Akteure, die sich sonst für die Einbeziehung junger Menschen in die Politik einsetzen, das Politikfeld kaum auf dem Schirm haben. Andererseits weil das Repräsentationsdefizit junger Menschen bei der politischen Gestaltung des Netzes besonders drastisch ausfällt.

Ohne in den Dualismus von "Digital Natives" und "Digital Immigrants" verfallen zu wollen: Auch 2017 wird Netzpolitik zu häufig von jenen bestimmt, für die das Netz ein abstrakter Begriff ist und welche die Konsequenzen ihrer Politik nicht direkt erfahren. Ganz im Gegenteil zur nachfolgenden Generation, die als demographisch schrumpfende und politisch marginalisierte Gruppe kaum über Einflussmöglichkeiten verfügt.

"Media Life" – Dauervernetzt in der Welt

Die Mediatisierung der Lebenswelt von Jugendlichen ist soweit vorangeschritten wie die keiner anderen Bevölkerungsgruppe: Ihr Alltag ist von digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie umfassend durchdrungen. Der niederländische Medienwissenschaftler Mark Deuze nennt diesen Modus des dauervernetzt-in-der-Welt-Seins "Media Life". Medien sind ihm zufolge keine externen Apparate mehr, mit denen in klaren Grenzen punktuell interagiert wird, sondern konstituieren zusehends unsere Lebenszusammenhänge. Für alle, die sich in Jugendhilfe, -arbeit und -politik für das Wohl und die Interessen junger Menschen einsetzen, heißt das: Der Digitale Wandel erfordert nicht nur Veränderungen in der pädagogischen Praxis und Organisation sondern muss auch unsere politische Agenda berühren:

1) Visionen und Konzepte für das Bildungswesen

Selbst ein klassisch jugendpolitisches Feld wie Bildung wird unter dem Gesichtspunkt des Digitalen Wandels von Jugendlobbyisten bislang kaum beackert. Beschwerden über digitalskeptische Lehrkräfte und die mangelhafte technische Ausstattung von Schulen sind schnell ausgesprochen. Aber es braucht auch Visionen und Konzepte für ein Bildungswesen, das durch die Integration digitaler Medien nicht nur lebensnah ist, sondern auch die zentralen Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben in der Digitalen Gesellschaft schärft: Reflexion und Organisation von Information, Kommunikation und Wissen.

2) Teilhabe an sozialen Prozessen

Auch die Themen Zugangsgerechtigkeit und digitale Grundversorgung gewinnen an Bedeutung, wenn man sich vor Augen hält, wie wichtig das Netz für die Identitäts- und Gruppenkonstruktion junger Menschen heute ist. Wer zuhause keinen Internetanschluss hat oder zur Mitte des Monats aufgrund des vertraglich beschränkten Datenvolumens nicht mehr von unterwegs kommunizieren kann, ist von der Teilhabe an relevanten sozialen Prozessen ausgeschlossen.

3) Daten beeinflussen Lebenschancen

Durch die Angewiesenheit auf die Infrastruktur digitaler Medien sind Heranwachsende zudem in besonderem Maße von staatlicher wie kommerzieller Überwachung betroffen. Für die Verwendung digitaler Plattformen zahlen die wenigsten Nutzer Geld – dafür werden große Teile ihres Lebens in Datenform festgehalten und diese persönlichen Informationen zur handelbaren Ware, deren Auswertung zukünftige Lebenschancen beeinflussen kann. Das ist umso folgenschwerer, da gerade die Lebensphase der Jugend durch Brüche, Experimente und das Austesten von Grenzen geprägt ist. Noch mehr als bei Erwachsenen hängt die freie Entfaltung der Persönlichkeit bei ihnen davon ab, dass nicht jede Handlung in ihren Konsequenzen durchdacht werden kann und muss.

4) Urheberrecht widerspricht Alltagskreativität

Nirgends ist der mangelnde Einbezug der Lebenswirklichkeit junger Menschen so sichtbar wie bei der Frage nach der Kompatibilität von Digitalkultur und Urheberrecht. Kopieren, Remixen und Teilen sind in den Öffentlichkeiten des Netzes gängige Kulturtechniken. Man muss kein Anhänger des Konzepts "Kulturflatrate" sein, um anzuerkennen, dass das derzeitige Urheberrecht mit seiner Idee vom "geistigen Eigentum" vielen Formen dieser kommunikativen Alltagskreativität entgegensteht.

Doch wie sollen politisch Entscheidende, in deren Alltag Remixe, Memes und Links keine Rolle spielen, auch ermessen können, welche Konsequenzen ihre Politik hat? Hier prägen Menschen, für die das Internet und digitale Medien keine große Rolle spielen, die Lebenswelt derer, die sich im Internet zuhause fühlen. Dabei geht es weniger um Expertentum, als um eine Verzahnung von Betroffenheit und Repräsentation.

Demokratische Potenziale des Netzes

In Zeiten des fortschreitenden Legitimationsverlusts des etablierten politischen Betriebs kommt diesem letzten Punkt eine besondere Bedeutung zu. Bislang ist es keiner Partei gelungen, das partizipative Potenzial des Netzes für die Herstellung von Politik zu nutzen. Während gerade für Jugendliche die wahrgenommene Nähe zu Stars und Idolen durch Dienste wie Youtube und Snapchat wächst, kommen die Institutionen und Akteure der Politik in diesen Lebenswelten kaum vor.

Und selbst wenn: In medialen Kontexten, in denen persönliche Präsenz und Authentizität alles sind, macht ihre formelle Präsenz den Jugendlichen nur noch deutlicher, wie wenig sie repräsentiert sind. Das Gefühl, von der Politik wahr- und ernstgenommen zu werden, ist jedoch eine zentral für das Vertrauen in Demokratie.

Jugend- und Netzpolitik zusammen denken

Es lohnt sich also, Jugend- und Netzpolitik zusammenzudenken. Die jüngste Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zu Digitalen Medien und auch erste Beschlüsse einiger Jugendverbände, z.B. des Deutschen Bundesjugendrings zeigen, dass die Notwendigkeit von ersten Akteuren erkannt wurde. Doch wenn diese Initiativen mehr sein sollen als bloße Lippenbekenntnisse, wird es größerer Anstrengungen bedürfen.

Über den Autor

Ingo Dachwitz ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler und arbeitet als Redakteur bei netzpolitik.org. Er ist Mitglied beim Verein Digitale Gesellschaft und moderiert den Netzpolitischen Abend in Berlin. Er gibt (nicht nur jungen) Menschen Kurse in digitaler Selbstverteidigung und Social-Media-Strategie, engagiert sich seit vielen Jahren jugendverbandlich, und berät die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend sowie den Deutschen Bundesjugendring in Fragen einer jugendgerechten Netzpolitik.

Das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe veranstaltete am 05./ 06. Dezember 2016 die Fachtagung "Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe" in Berlin. Die Veranstaltung thematisierte medienpädagogische, professions- und organisationsbezogene Fragestellungen genauso wie jugend-, bildungs- und netzpolitische Standpunkte.

Zentrale Aspekte der Diskussion werden in Form einer losen Abfolge von Fachbeiträgen unter  www.jugendhilfeportal.de/themenspecial dokumentiert und für die weitere fachliche Auseinandersetzung zur Verfügung gestellt.

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