Förderung der Erziehung in der Familie

Wenn Kinder ihre Eltern schlagen: Kongress in Bremen scheut keine Tabuthemen

Es sei eines der letzten Tabus im Bereich familiäre Gewalt, schätzt Dr. Wilhelm Rotthaus. Kinder, die ihre Eltern regelrecht verprügeln, erpressen, oder ihnen absichtlich finanziellen Schaden zufügen, ist eines der brisantesten Themen auf dem Kongress „Familien(Gewalten) – Risikokonstellationen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“, den die Kinderschutz-Zentren in Kooperation mit dem Bremer Kinderschutz-Zentrum vom 15. -16.3.2012 veranstaltet haben.

22.03.2012

Zwei Tage der Begegnung von rund 150 Fachkräften aus Praxis und Wissenschaft, zwei Tage des intensiven Austauschs über hochstrittige Eltern, rechtsradikale Jugendliche, Partnerschaftsgewalt, (sexuell) übergriffige Geschwister, Präventions- und Interventionswege. 

Die meisten Topoi haben durch die gerade erst veröffentlichte Forsa-Studie zu den gewalttätigen Erziehungsmethoden der Deutschen noch an Aktualität gewonnen.
Doch Themen wie das von Dr. Rotthaus werden von Studien kaum erfasst. Erste wissenschaftliche Veröffentlichungen gibt es zwar seit den 80ern, besonders viele seien jedoch nicht hinzugekommen, versichert der Psychiater den Kongressteilnehmern lächelnd. Dabei kommt familiäre Gewalt seitens der Kinder viel häufiger vor, als allgemein bekannt, und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten. 1986 gaben bei einer Befragung von Studenten 14,5% von ihnen an, ihren Eltern mit Schlägen, oder anderen Formen der Gewalt begegnet zu sein. Und die Tendenz ist steigend. Berücksichtige man die extrem hohe Dunkelziffer, müsse die von den Kindern an den Eltern ausgeübte Gewalt sogar als häufigste Form innerfamiliärer Gewalt in Betracht gezogen werden. Skepsis im Plenum, aber Dr. Rotthaus muss es wissen. Mehr als zwei Jahrzehnte hat er als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Viersener Spezialklinik mit gewaltbelasteten Familien und gewalttätigen Kindern gearbeitet. „Seit einigen Jahren haben wir immer öfter mit dem Phänomen zu tun, auch wenn es lange dauert, bis das wahre Problem zum Vorschein kommt. Die Scham der Eltern ist ungeheuer groß. Häufig schieben sie andere Probleme vor. Erst in der vierten oder fünften Sitzung krempelt dann die Mutter die Ärmel hoch und zeigt ihre blauen Flecken.“ Auch den „Tätern“ geht es schlecht. Sie leiden unter Schuldgefühlen, unter großen sozialen Problemen, auch in der Schule. Die etwa 8- bis 17-Jährigen haben aus den unterschiedlichsten Gründen innerhalb der Familie die Leitfunktion übernommen, sind damit aber überfordert, deshalb wütend und aggressiv.

Um diese Verkehrung der familiären Positionen wieder aufzubrechen, geht Dr. Rotthaus ungewöhnliche Wege:
„Die Veränderung der Situation muss von den Eltern ausgehen. Wenn Sie diesen aber nun raten ’Setzen Sie Grenzen und bleiben Sie hart!‘ werden Sie wahrscheinlich nicht wieder zu Ihnen in die Beratung kommen. Denn die Eltern wissen, dass sie dann erst recht von ihren Jungen oder Mädchen Prügel bekommen.“
Inspiriert von Haim Omer greift Facharzt Rotthaus zu anderen Unterstützungsmaßnahmen. „Ein ganz wichtiges Element bei Gewaltanwendung, gerade auch bei sexueller Gewalt, ist das Schweigen, das Geheimnis. Es verleiht den Tätern Macht. Ich rate den Betroffenen deshalb, Öffentlichkeit zu schaffen, indem sie Freunde der Familie einweihen und diese bitten, das Kind auf sein Verhalten anzusprechen. Dann hört das Schlagen schlagartig auf.“ Deeskalation sei ganz wichtig. Nicht auf Provokationen, oder gar einen Machtkampf einlassen, sondern ruhigen Widerstand leisten, heißt die Devise. „Die Kinder müssen spüren: hier geht es nicht ums Gewinnen oder Verlieren, sondern um Präsenz.“ Wenn Mutter und/oder Vater deutlich, aber ohne Drohgebärden immer wieder signalisieren, dass sie mit dem Verhalten ihres Kindes nicht einverstanden sind und Änderungsvorschläge erwarten, könne sich langfristig ein neues Miteinander entwickeln.

Die Lösungsansätze des Vortragenden finden Anklang, werfen beim Publikum aber auch Fragen auf. Vor allem sehen viele Kongressteilnehmer einen Vorteil am Setting in der Klinik. Wie aber sollen sie die gewalttätigen Kinder dazu motivieren, in die Beratungsstellen zu kommen? Der Gesprächsbedarf ist groß, leider größer, als der Rahmen dieses Kongresses erlaubt. 

Wenn Sie nicht bis zur nächsten Veranstaltung der Kinderschutz-Zentren zum Thema „familiäre Gewalt“ warten wollen, haben Sie die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen auf der Internetseite der Kinderschutz-Zentren <link http: www.kinderschutz-zentren.org _blank external-link-new-window external link in new>hier zu teilen.

Quelle: Kinderschutz-Zentren

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