EU-Jugendstrategie

„Übergang Schule – Beruf: Ein ganzheitlicher Ansatz braucht Zeit“

Wie können benachteiligte junge Menschen in der Übergangsphase ganzheitlich und umfassend begleitet werden? Wie erhalten sie vollen Zugang zu allen existierenden Angeboten? Und welche innovativen Lösungsansätze gibt es für diese jungen Menschen? Mit diesen Fragen haben sich die Teilnehmenden des multilateralen Kooperationsprojekts „transitions. Gelingende Übergänge in Ausbildung und Arbeit“ in ihrem Fachprogramm in Frankreich beschäftigt. Neben dem Gastgeberland hatten Fachkräfte der Jugendhilfe sowie Wissenschaftler/-innen aus Deutschland, Finnland und Luxemburg an dem Austausch teilgenommen.

11.11.2013

Für Elke Moritz haben sich aus dem Praxisbesuch im Bildungs- und Gesundheitszentrum von Nanterre, einer 90.000-Einwohner-Gemeinde im Westen von Paris, interessante Einblicke ergeben. Die Sozialpädagogin, die in Hamburg als Projektleiterin für die Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung im Übergangsbereich Schule-Beruf sowie als Sprecherin des Arbeitskreises Übergangsmanagement der Bundesarbeitsgemeinschaft örtlich regionaler Träger der Jugendsozialarbeit (BAG ÖRT) tätig ist, sieht sich darin bestärkt, wie wichtig der ganzheitliche Ansatz insbesondere für die so genannten „drop outs“ ist. „Mir ist deutlich geworden, dass wir Kindern und Jugendlichen, die sich dem Bildungssystem völlig entzogen haben, wirklich ausreichend Zeit und Raum für ihre Entwicklung lassen müssen.“

Mehr als ein Arbeitsplatz

Frankreich – da waren sich die deutschen Teilnehmenden einig – verfolge dabei in punkto Beratung und Betreuung der Jugendlichen ähnlich wie Finnland einen lobenswerten ganzheitlichen Ansatz. Der Jugendliche werde mit seiner gesamten Persönlichkeit, seiner Gesundheit (seinen psychischen und/ oder physischen Problemen) sowie seiner gesamten Lebensplanung in den Begleitprozess mit einbezogen. Dies ist auch ein Anliegen der Jugendsozialarbeit in Deutschland. „Die Bundesländer können hier sicher noch eine Menge lernen. Wo bitteschön werden bei uns Ärzte, Krankenschwestern oder Psychologen in die Teams mit eingebunden?“, fragt Moritz und stellt mit einer gewissen Sorge fest, dass die immer früher einsetzende Berufs- und Studienorientierung in Deutschland zum Maß aller Dinge wird. „Von einem ganzheitlichen Ansatz sind wir jedenfalls weit entfernt.“

„Missions Locales“ und „FEJ“ in Frankreich

Tatsächlich hat Frankreich unter Präsident Hollande den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit zu einer der Hauptaufgaben gemacht. 150.000 neue Ausbildungsstellen soll es geben. Ein deutliches, aber wohl auch notwendiges Signal angesichts einer Jugendarbeitslosenquote von 22,7 Prozent. Neben den bereits seit 30 Jahren erfolgreich arbeitenden „Missions locales“, die sich mit 450 Stellen im ganzen Land darum bemühen, Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren auf lokaler Ebene bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, kommt in Frankreich dem „Fonds d´Expérimentation pour la Jeunesse“ - FEJ, einem Jugendfonds für neue Modellprojekte, eine besondere Bedeutung zu. Der FEJ wurde 2009 aufgelegt und ist eines der zentralen Programme des französischen Jugendministeriums in Zusammenarbeit mit anderen Ressorts und der Wirtschaft. Aus ihm werden innovative Projekte gefördert, die den Bedürfnissen von Jugendlichen unter 25 Jahren gerecht werden sollen. Neben der Verbesserung der sozialen und beruflichen Integration von Jugendlichen geht es dabei um die Unterstützung des schulischen Erfolgs und die Erhöhung der Chancengleichheit.
156 Millionen Euro stehen für den Zeitraum von 2009 bis 2014 zur Verfügung. Bislang wurden knapp eine halbe Million Jugendliche durch die Projekte des FEJ erreicht.

Positives Bild von Jugend

Die deutsche Gruppe zeigte sich überrascht darüber, welch hohen Stellenwert Jugendthemen in Frankreich genießen. „Priorité Jeunesse“ nennt sich das zentrale Programm des Jugendministeriums. Eine interministerielle Arbeitsgruppe ("comité interministériel de la jeunesse") beschäftigt sich mit den Problemen von Jugendlichen im Übergangssystem. Zudem scheinen in Frankreich auch junge Menschen, deren Leben nicht „nach Bilderbuch“ verläuft, viel stärker in Medien und Öffentlichkeit präsent zu sein als in Deutschland. „Ich habe mir mal ein paar Zeitungen gekauft und extra auf Jugendthemen durchgesehen“, erzählt Petra Klein, Leiterin der Kompetenzagentur im „Haus der offenen Tür“ Sinzig, „Es stimmt tatsächlich: Über Jugend wird berichtet und oft auch positiv.“ Anderen fielen auf der Straße oder in der Métro Hinweise auf die unterschiedlichen Unterstützungsangebote für Jugendliche auf.

20-Minuten-Gespräche im Jobcenter? Nein!

Auch Kathleen Jane Schummer, Psychologin und Berufsberaterin bei einer Arbeitsentwicklungsagentur in Luxemburg, lobt den „multidimensionalen“ Ansatz in Frankreich. Für eine Verbesserung des Übergangssystems in ihrem Land fordert sie nachhaltigere Netzwerke, weniger Konkurrenzdenken, fundierte Aus- und Weiterbildungen, Supervision und vor allem: mehr Zeit. „Persönliche Entwicklung und Empowerment gehen nicht von heute auf morgen, und doch lassen sich die Akteure immer wieder in eine gewisse Dringlichkeit miteinbeziehen“, kritisiert Schummer. Eine Forderung, der die Teilnehmenden aus den anderen Partnerländern zustimmen. Die finnischen Fachleute würden die üblichen 20-Minuten-Gespräche bei Jobcentern jedenfalls am liebsten sofort streichen.

Mehr Flexibilität und Freiwilligkeit

Und noch ein Wunsch trifft den Nerv vieler Sozialpädagog(inn)en und Sozialarbeiter/-innen: die Freiwilligkeit an der Teilnahme eines Projekts. So wie es bei den „Missions locales“ in Frankreich und bei Angeboten der Jugendsozialarbeit in Deutschland üblich, bei den Maßnahmen einer deutschen Arbeitsagentur in der Regel aber unüblich ist. „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Arbeitsagenturen und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen unterscheiden sich eben im Blick auf die benachteiligten Jugendlichen. Für die einen geht es darum, dem jungen Menschen schnell eine Arbeit zu verschaffen, uns geht es aber vielleicht gerade darum, ihm bei der Entscheidung noch Zeit zu lassen. Das kann ein Widerspruch sein“, erklärt Birgit Gutenmorgen, Arbeitsmarktkoordinatorin im Bezirksamt Hamburg-Altona.
„Der Wille ist oft da. Aber was wir brauchen, sind flexiblere Strukturen im Übergangssystem, die sich auch tatsächlich an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientieren“, fordert der Finne Olli Alanen, der als Jugendreferent am „Helsinki Deaconess“-Institut arbeitet und in der aufsuchenden Jugendarbeit tätig ist.

Die Zielgruppe im Blick

Trotz der Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Finnland – über einen niedrigschwelligen Zugang und die gezielte Erreichbarkeit von benachteiligten Jugendlichen machen sich alle Länder gleichermaßen Gedanken. Auch die verlässliche Finanzierung der pädagogischen Arbeit und eine SGB II, III und VIII verbindende rechtskreisübergreifende Beratung und Betreuung von Jugendlichen sei wichtig. Zudem, so der Wunsch vieler Fachexpert(inn)en, müssten alle am Übergangssystem beteiligten Akteure die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse noch besser kennenlernen.

Impulse im Gepäck

Die deutschen Teilnehmenden haben sich nach ihrer Rückkehr aus Frankreich viel vorgenommen. Neben einem verstärkten Kontakt zu Schulen, Eltern oder politischen Ansprechpartnern in der Gemeinde wollen sie vor allem den Austausch mit den zuständigen Stellen in der Verwaltung intensivieren. Geplant sind Handlungsleitfäden auf Leitungsebene, Qualitätsdiskussionen in den eigenen Gremien sowie Materialdokumentationen auf Internetportalen wie <link http: www.uebergangschuleberuf.de _blank external-link-new-window external link in new>www.uebergangschuleberuf.de. Auch der peer-to-peer-Austausch zwischen Fachexpert(inn)en verschiedener Bundesländer soll gestärkt werden. „Wir wollen uns weiter darüber austauschen, wie wir auch für Dresden gemeinsam mit allen Kooperationspartnern Standards entwickeln können" sagt Valérie Cohen vom Jugendamt Dresden. "Die Qualitätsdiskussion muss geführt werden. Aber insgesamt habe ich festgestellt: Wir sind gar nicht so schlecht!"

Quelle: IJAB - Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland, Marco Heuer

Back to Top