Kinder- und Jugendhilfetag

Im Nachbarland den eigenen Reset-Knopf drücken

Gerwin Karafiol von Wellenbrecher e.V.

Wie eine Gruppe engagierter Jugendhilfe-Träger Auslandsaufenthalte für sozial benachteiligte Jugendliche zur Normalität machen möchte, das kann man am Stand des Europäischen Forums für Soziale Bildung (EFFSE) auf dem 15. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag in Berlin erfahren.

04.06.2014

Von Anita Demuth

Ein Jahr an einer amerikanischen High-School, in einem vietnamesischen Kinderheim oder an einer spanischen Universität – nichts scheint einfacher und normaler für die heutige Generation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein als ein längerer Auslandsaufenthalt. Doch gilt das tatsächlich für die gesamte Generation?

Wohl eher nicht. Es sind hauptsächlich Gymnasiasten, frisch gebackene Abiturienten und Studenten, die entsprechende Angebote wahrnehmen. Kaum einer zweifelt noch an dem großen Nutzen der vielfältigen Formen von Auslandsaufenthalten für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Leute. Auch für sozial benachteiligte Jugendliche kann ein längerer Auslandsaufenthalt bereichernd sein, wenn nicht sogar mit deutlicheren Veränderungen im individuellen Verhalten und Denken der Heranwachsenden. Davon ist zumindest das Forum für Soziale Bildung (EFFSE) nach jahrelanger Projektarbeit im Ausland überzeugt.

Das Europäische Forum für Soziale Bildung (EFFSE) wurde vor fünf Jahren  von vier freien Trägern der deutschen Jugendhilfe  gegründet (Don Bosco Jugendwerk Bamberg, Campus Christophorus Jugendwerk Oberrimsingen, Stiftung Leuchtfeuer Köln und Wellenbrecher e.V. Dortmund). Es ist nun erstmals auf dem Kinder- und Jugendhilfetag mit einem eigenen Stand vertreten. Alle vier Organisationen bieten intensivpädagogische Auslandsaufenthalte für Heranwachsende, die bereits eine „Jugendhilfekarriere“ hinter sich haben und als besonders schwierige Fälle angesehen werden. Die Eins-zu-Eins-Betreuung im Ausland soll den jungen Menschen helfen, neue Perspektiven im Leben zu gewinnen. Das Forum fordert Individualpädagogik im Ausland als Umsetzung des Rechtes auf Bildung, weil die schulische und non-formale Bildung nicht alle Kinder und Jugendliche erreicht. Außerdem möchte es den Wissenstransfer zwischen Trägern der Jugendhilfe in den verschiedenen europäischen Ländern anregen.

Auslandsaufenthalte dürfen laut dt. Gesetzgebung nur  als ultima ratio in der Jugendhilfe eingesetzt werden, wenn alle anderen Maßnahmen zur Erziehung der Heranwachsenden versagt haben. „Wir als EFFSE fordern dagegen,  dass es in Zeiten eines vereinigten Europas mehr Auslandsangebote für sozial benachteiligte Jugendliche geben und früher eingesetzt werden sollten“ sagt Gerwin Karafiol von Wellenbrecher e.V. Denn die Auslandsaufenthalte ermöglichen den jungen Menschen sich neu zu orientieren fernab ihrer heimischen Umgebung, wo sie zwischen Familie, Heim, Straße, Psychiatrie oder Gefängnis umherwandern. Im  Ausland eine Weile zu leben ist wie den „Reset“-Knopf des jungen Lebens zu drücken.

Wellenbrecher e.V. schickt deutsche Jugendliche, die fast alle durch Drogenkonsum, kriminelles und gewalttätiges Verhalten aufgefallen sind, nach Polen. Dort bekommt jede(r) einen polnischen Betreuer, von dem er oder sie polnisch im Handumdrehen lernt – meist nach einem halben Jahr sprechen die Jugendlichen fließend polnisch. Die Idee dahinter ist mehr als nur ein Fremdsprachentraining. Es geht darum, dass die Jugendlichen ihre übliche derbe Sprache ablegen sollen, denn die deutschen Schimpfwörter zeigen keine Wirkung bei einem Polen. Und Betreuer und Jugendlicher müssen sich in die Augen schauen, müssen Mimik und Gestik nutzen, um zu kommunizieren. Das hilft beim Aufbau von Beziehungen – etwas, was viele dieser Jugendlichen  verlernt oder nie erlernt haben.

Manch Teilnehmer feiert im Ausland erstaunliche Erfolge. Die Wellenbrecher-Sozialpädagogen möchten in Polen, dass sich die Jugendlichen eine Sportart wählen, die sie im Anschluss ausüben. Ein Jugendlicher wollte Schach machen. Auch wenn dies nicht ganz im Sinne des Wellenbrecher-Ansatzes und der Junge nicht gerade durch besonders intellektuelle Fähigkeiten aufgefallen waren, durfte er seinem Wunsch nachgehen. Heute ist er der nordpolnische Vizemeister im Blitzschach.

„Die Wiedereingliederung in die heimische Umgebung ist ein großes Problem“ gibt Christian Speidel vom Kinder- und Jugendhilfe-Verbund (kjhv) zu Bedenken. Auch der kjhv hat Erfahrungen mit individualpädagogischen Auslandsprojekten gesammelt.  Lieber nimmt der Verbund die Kinder und Jugendliche, die sich in einer extremen Problemlage befinden, zwar auch in Einzelbetreuung fernab derer Umgebung, jedoch lediglich in einem Umkreis von 100 bis 200 Kilometern. „Das ist schon viel für die meisten Kids, die bisher kaum aus ihrem Wohnviertel herausgekommen sind“, sagt ... Betreuer und Betreute leben dabei in einem Wohnmobil. Nach dem längeren gemeinsamen Ausflug ist derselbe Betreuer noch für 2 bis 3 Jahre Ansprechpartner für das Kind oder Jugendlichen.

Die Erfahrungen von Wellenbrecher zeigen jedoch, dass  die Jugendlichen durch die intensive Lernerfahrung nicht nur wieder Teil der deutschen Gesellschaft werden, sondern sich im besten Fall als Teil einer europäischen Gemeinschaft begreifen.  „Die Lernerfolge, die sie im Ausland haben, werden sie in ihrem zukünftigen Leben immer positiv mit ihrem Gastland verbinden“ erklärt Karafiol das Phänomen. „Seine“ Kinder, wie er sie liebevoll nennt, betteln ihn an, er möge eine Verlängerung ihres Aufenthalts in Polen organisieren. „Sie haben einen Ort gefunden, an dem sie sich wohl fühlen und wo Lernen ihnen Spaß macht“, so Karafiol. Die Rückkehr ist daher tatsächlich ein Problem, welches sich der Verein zurzeit strategisch immer mehr zuwendet, beispielsweise mit ein paar wenigen Betreuungsplätzen im Inland.

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