Sozialpolitik

Gemischte Jahresbilanz zum Bildungspaket

Top oder Flop? Beim Bildungspaket für Kinder aus Hartz IV-Familien liegen die Auffassungen ein Jahr nach Einführung dieser Sozialleistung weit auseinander.

30.03.2012

Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Bildungs- und Teilhabepakets zog Bundesarbeitsministerin von der Leyen heute ein positives Fazit. So sei die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets annehmen, ist in den vergangenen zwölf Monaten stetig gestiegen. Das zeige, so die Ministerin, dass sich die Mühe lohne und das Bildungspaket langsam selbständig werde. „Ich freue mich aber besonders darüber, dass die große Mehrheit der betroffenen Familien dem Bildungspaket und seinen Geburtshelfern in den Städten und Gemeinden ein Jahr nach dem holpernden Start ein gutes Zeugnis ausstellt. Viele Befürchtungen, etwa dass Anträge zu kompliziert seien, dass die Inanspruchnahme Kinder stigmatisiere oder Folgekosten zur kostenlosen Vereinsmitgliedschaft, wie ein Paar Fußballschuhe, Familien überforderten, werden von einer überwältigenden Mehrheit der Betroffenen nicht geteilt“, sagte von der Leyen.
Das Bildungspaket könne kein Schulsystem ersetzen und auch nicht den weiter notwendigen Ausbau der Kitas. Jedoch sei das Bildungspaket eine notwendige Ergänzung, damit Kinder aus ärmeren Familien bessere Startchancen bekämen. „Die Zwischenergebnisse zeigen, dass beharrlicher Einsatz lohnt. Ich möchte, dass noch mehr Kinder die Teilhabeangebote nutzen. Wir wollen uns auch stärker um Migranten kümmern und die Kinder erreichen, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht kennen oder ablehnen. Auf diesen drei Feldern müssen wir besser werden. Trotzdem lässt sich heute bereits feststellen: Das Bildungspaket ist aus dem Gröbsten raus und wird langsam selbständig.“

Auch die Kommunen zogen ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Bildungs- und Teilhabepaketes eine positive Zwischenbilanz: Trotz Startschwierigkeiten und einer Reihe von offenen Umsetzungsfragen in den ersten Monaten sei die Zahl der bedürftigen Kinder und Jugendlichen, für die Leistungen beantragt werden, kontinuierlich gestiegen, stellten heute in Berlin der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund fest. Durch die intensive Informationsarbeit von Bund, Ländern und Kommunen gelinge es zunehmend, Kindern und Jugendlichen einen besseren Zugang zu bestimmten Bildungs- und Teilhabeleistungen zu verschaffen. Ziel bleibt es, die Inanspruchnahme weiter zu verbessern.

Nach Umfragen des Deutschen Städtetages und des Deutschen Landkreistages bei rund 70 Städten und 190 Landkreisen haben die Eltern bis zum 1. März dieses Jahres im Durchschnitt für etwa 56 bzw. 53 Prozent der leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen Anträge auf Leistungen gestellt. Im Juni 2011 hatte in Umfragen der Verbände die Inanspruchnahme der Leistungen bei 27 Prozent bis 30 Prozent und im November 2011 bei 44 bis 46 Prozent gelegen. Die Durchschnittszahlen beziehen sich auf die Leistungen, die beantragt werden müssen. Das Schulbedarfspaket für Kinder von Hartz IV-Beziehern wurde dabei bewusst nicht hinzugerechnet, weil diese Leistung automatisch ohne Antrag gewährt wird.

Die Vizepräsidentin des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeisterin Petra Roth, sagte, die Ergebnisse ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes könnten sich sehen lassen. Das Bildungspaket sei ein Baustein auf dem Weg zu mehr Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche aus Familien mit Arbeitslosigkeit oder geringen Einkommen. „Dennoch bleibt genug zu tun, die Kommunen wollen noch mehr Kinder und Jugendliche erreichen. Mitwirken müssen daran aber auch viele andere: Schulen, Kindergärten, Vereine und Eltern“, so Roth. Die ersten Monate hätten sich mühsam gestaltet, es habe Start- und Umsetzungsprobleme gegeben. Städte, Landkreise und Gemeinden hätten daher großen Wert darauf gelegt, den hohen bürokratischen Aufwand zu verringern. „Sachleistungen, die politisch von allen gewollt waren, bleiben aufwändiger als Geldleistungen, aber wir sind hier gemeinsam mit Bund und Ländern ein Stück vorangekommen. So dürfen Kommunen inzwischen Eltern im Nachhinein Kosten erstatten, wenn sie vorher den Zuschuss für eine Klassenfahrt, zum Mittagessen oder für eine Vereinsmitgliedschaft nicht beantragen konnten“, sagte die Städtetagsvizepräsidentin.

Hans-Günter Henneke, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, räumte ein, dass glücklicherweise nicht alle bedürftigen Kinder das Bildungspaket brauchten. Viele Vereine böten Kindern aus armen Familien kostenlose Mitgliedschaften an, nur wenige Kinder seien versetzungsgefährdet und nicht alle Kinder seien auf Schülerbeförderung angewiesen. Von daher ist der unabstreitbare Erfolg des Bildungspakets statistisch nur schwer zu erfassen. „Bemerkenswert ist außerdem, dass anders als teilweise vermutet kein Stadt-Land-Gefälle erkennbar ist. Die Leistungen des Bildungspakets werden in Städten und Landkreisen gleichermaßen angenommen. Die jeweils vorhandenen Strukturen werden gut genutzt. Der Individualanspruch auf das Existenzminimum, der mit dem Bildungspaket umgesetzt wird, schafft keine neuen Angebote vor Ort, sondern bezieht sich nur auf die Teilhabe an vorhandenen Angeboten, die von Ländern und Kommunen für bedürftige wie nichtbedürftige Kinder bereit gestellt werden“, so Henneke.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, sieht im Bildungspaket einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit benachteiligter Kinder und Jugendlicher. Die damit verbundene Bürokratie sei unvermeidbar, weil nur so die notwendige Zweckbindung der Leistungen sichergestellt werden könne. „Die Maßnahmen im Rahmen des Bildungspaketes sind wichtig und richtig. Der erreichte Umsetzungsstand darf nicht kleingeredet oder sogar negiert werden. Dies ist jedoch nur ein kleiner Schritt auf dem Weg in die Bildungsrepublik. Wenn wir die Rückstände in unserem Bildungssystem weiter aufholen und die Chancengleichheit aller Kinder verbessern wollen, müssen wir unsere Anstrengungen weiter verstärken. Dazu gehört z. B. der konsequente weitere Ausbau der Kindertagesbetreuung, wo vor allem die Länder ihre Unterstützung verstärken müssen, wie auch die flächendeckende Ganztagsschule mit individueller Förderung der einzelnen Kinder und Jugendlichen“, sagte Landsberg.

Laute Kritik am Bildungspaket
Bereits im Vorfeld des heutigen Jahrestages ist deutliche Kritik am Bildungspaket laut geworden. So bezeichnete der Paritätische Wohlfahrtsverband unter Berufung auf eine <link http: www.dgb.de themen _blank external-link-new-window external link in new>Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes das Bildungspaket als „Totalreinfall“, da nur ein Fünftel der für diese Sozialleistung im Jahr 2011 bereitgestellten Mittel tatsächlich abgerufen worden seien. „Die Bilanz nach einem Jahr ist desaströs“, stellte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, fest. Es zeige sich, dass nicht einmal die Hälfte der Antragsberechtigten erreicht wurde. „Insbesondere die Sport- und Musikgutscheine entpuppen sich als Luftnummer, die kaum abgefragt werden“, so Schneider. „Statt neuer Perspektiven und echter Teilhabechancen für Kinder in Hartz IV wurde ein neues Bürokratiemonster geschaffen. Dieser ganze Gesetzesmurks ist an Ineffizienz und Verwaltungsaufwand nicht zu überbieten.“

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock erklärte heute, das Bildungspaket sei ein gut gemeintes Instrument, das faktisch an der Lebenswirklichkeit vieler Familien vorbei gehe und ineffizient sei. Die Bundesregierung müsse deshalb umsteuern. „Besser ist es, die Mittel direkt in gute Ganztagsschulen und Kindergärten fließen zu lassen. Dann werden alle Familien erreicht. Dafür muss aber das Kooperationsverbot zwischen Bund, Ländern und Kommunen fallen."
 
Bisher seien von Familien vor allem solche Leistungen abgefragt worden, die es vorher schon gegeben habe. Das seien Zuschüsse für Schulmaterialien, mehrtägige Klassenfahrten und teils auch Mittagessen. Neue Leistungen für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, etwa Gutscheine für Nachhilfe oder Zuschüsse für Musikschulen und Sportvereine kämen hingegen kaum bei den Kindern an.

Der Diakonie-Bundesverband hat im Rahmen einer bundesweiten Befragung von über 70 diakonischen Beratungsstellen festgestellt, dass die Hilfen aus dem Bildungspaket aufgrund bürokratischer Hürden bei den Kindern sozial benachteiligter Familien nicht ankämen. "Um Leistungen aus dem Bildungspaket zu erhalten, müssen für ein Kind bis zu acht Einzelanträge bei unterschiedlichen Stellen eingereicht werden. Besonders kinderreiche Familien können die Antragsflut nicht bewältigen und schrecken vor einer Antragsstellung zurück", zog Maria Loheide, sozialpolitischer Vorstand des Diakonie Bundesverbandes, kritisch Bilanz. Die Diakonie forderte den Gesetzgeber auf, die überbordende Bürokratie beim Bildungs- und Teilhabepaket abzuschaffen. "Eltern sollten Leistungen für ihre Kinder direkt erhalten und abrechnen", erklärt Loheide. "Es reicht völlig aus, wenn Eltern die Ausgaben belegen können. Es besteht kein Grund, warum Erstattungen erst über drei Konten bei verschiedenen Institutionen laufen müssen. Dies entmündigt die Eltern", betonte Loheide.

Aus Sicht des AWO Bundesvorsitzenden Wolfgang Stadler liegt es im Verschulden einiger Bundesländer, dass kein bundesweiter Globalantrag eingeführt worden sei. Damit wären automatisch mit einer Beantragung von Hartz IV-Leistungen zugleich auch die Leistungen aus dem Bildungspaket beantragt gewesen. Nun aber bleibe es bei der aktuell für die meisten Betroffenen völlig unübersichtlichen Verfahrensweise. „Diese Intransparenz hält die Anspruchsberechtigten von ihrem Antrag ab, vergeudet Zeit und schafft Unmut bei den Betroffenen. Hier sind Bund und Länder in der Pflicht für Klarheit und kurze Wege zu sorgen. Ansonsten wird auch der zweite Geburtstag kein Grund für Freude werden“, betonte der AWO Bundesvorsitzende.  

Nach Angaben von Caritas-Präsident Peter Neher ist es dringend erforderlich, dass der Verwaltungsaufwand reduziert und die Information zu den Angeboten verstärkt würden. So hätten Rückmeldungen aus den Beratungsstellen der Caritas gezeigt, dass Bildungs- und Teilhabeleistungen auch aus Angst vor Stigmatisierung nicht beantragt würden. Positiv sei der im Zuge des Bildungs- und Teilhabepakets mit Bundesmitteln unterstützte Ausbau der Schulsozialarbeit. "Es ist zu begrüßen, dass die Kommunen zunehmend mehr Sozialarbeiter einstellen, die benachteiligte Schüler im Schulalltag unterstützen. Dies sind erste Schritte, die unbedingt weitergegangen werden müssen", so Neher. Die Bundesmittel für Schulsozialarbeit würden aber nur befristet gewährt. Die Länder stünden in der Verantwortung, nachhaltige Strukturen aufzubauen. Zudem sei eine Aufhebung des Kooperationsverbotes notwendig, um eine Förderung des Bundes für bessere Bildungschancen von Benachteiligten zu ermöglichen.

In Reaktion auf die DGB-Analyse erklärte die Bundesagentur für Arbeit (BA), das hier genutzte BA-Zahlenmaterial zu Ausgaben für das Bildungs- und Teilhabepaket sei nicht geeignet, um Erfolg oder Misserfolg dieser Maßnahmen zu bewerten. Die tatsächlichen Ausgaben für das Bildungs- und Teilhabepaket hätten 2011 deutlich über den aktuell in Medien genannten 129 Millionen Euro. So würden die Zahlungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für rund 250.000 Kinder, die Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen, von der BA nicht erfasst.

Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales / Deutscher Städte- und Gemeindebund / Paritätischer Gesamtverband / Diakonisches Werk der EKD / Deutscher Caritasverband / Arbeiterwohlfahrt Bundesverband / Bundesagentur für Arbeit / Deutscher Gewerkschafsbund

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