Inklusion

"Ganztag und Inklusion müssen zusammengehören"

Prof. Stephan Maykus hat die Professur für "Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit" an der Hochschule Osnabrück inne und forscht seit Jahren zu kommunaler Bildungsplanung, darunter zur Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Ganztagschule. Er berichtet im Interview über aktuelle Forschungsvorhaben.

27.03.2014

Prof. Maykus, ergänzen sich Ganztagsschulausbau und das Vorantreiben der Inklusion, oder geht das eine nur auf Kosten des anderen?

Beides muss zusammengehören, kann es aber nur, wenn entsprechende Rahmenbedingungen entstehen. Ganztägig organisierte Schulen bieten Zeit und Raum für die angesprochenen pädagogischen Potenziale beziehungsweise Anforderungen, sie ermöglichen eine intensive individuelle und soziale Förderung aller jungen Menschen und verkörpern eine Schule, die im Netzwerk unterschiedlicher Berufsgruppen gestaltet wird.

Die Potenziale ganztägigen Lernens benötigen einen förderlichen Rahmen, der durch eine entsprechende finanzielle Ausstattung in den Bundesländern sichergestellt sein muss. Dann können Räume, Personal und interprofessionelle Netzwerke angemessen entwickelt werden. Langfristig muss allerdings auch geprüft werden, ob das offene Konzept vieler Ganztagsschulen dann noch das Konzept der Zukunft ist oder vielmehr die Ziele erschwert. Denn das Personal im offenen Ganztag ist natürlich oft nicht auf unterschiedlichste Förderbedarfe von Kindern eingestellt, sondern auf die Umsetzung eines speziellen Angebotes, das Baustein des Ganztagsprogramms ist. Eine Befürchtung darf sich nicht einstellen: dass Inklusion mit der Mittagszeit endet.

Sehen Sie Anknüpfungspunkte zwischen Ganztag, Sozialpädagogik und Inklusion, die sich zu einem integrierten Konzept verwirklichen lassen?

Ja, der Ganztag steht für individuelle Förderung, eine Pädagogik der Vielfalt in einem erweiterten Schulleben, das zeitlich, räumlich und personell gestützt ist. Hier ist Inklusion eigentlich ohnehin schon Konzeptmerkmal. Eigentlich – denn die Umsetzung verlangt meines Erachtens die eben genannten Bedingungen. Da die überwiegend nicht hinreichend gegeben sind, wirkt Inklusion wie ein Sonderprojekt und nicht wie eine konzeptionelle Facette der guten Schule und der Bildungsförderung im Sozialraum. Genau hierfür bieten Sonder- und Sozialpädagogik wichtige, sozusagen angestammte Kompetenzen, die in die Gestaltung der inklusiven Ganztagsschulen eingebracht werden sollten. Es geht letztlich um die gemeinsame Gestaltung von Bildungsbedingungen in den Stadtteilen und Gemeinden, sowohl in der Schule als auch in den sozialräumlich verankerten Orten der Bildung und Entwicklung. Davon profitieren alle – denn gemeinsam geht es besser.

Sie verfolgen Themen wie Individuelle Förderung und Inklusion seit Jahren. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?

In der Praxis wird diese Debatte sehr emotional geführt. Das große, weitreichende soziale Konzept der Inklusion, alle Kinder an allgemeinbildenden Schulen aufzunehmen, wird von der großen Mehrheit bejaht. Ein wirkliches Wissen darüber, wie offen die Gesellschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Lern- und Lebensbedingungen eingestellt ist, ist dagegen nicht vorhanden. Das Thema ist zwar automatisch positiv besetzt, aber was geschieht, wenn es die eigene Schule, die eigene Klasse, die eigene Nachbarschaft betrifft?

Das Emotionale entsteht, wenn es um Fragen der Umsetzung geht, weil dann zum Beispiel bei Eltern Ängste und Befürchtungen entstehen, dass ihre Kinder nicht mehr gut lernen, wenn die Klasse so heterogen zusammengesetzt ist. Bei Lehrkräften, die teilweise seit Jahrzehnten in einer bestimmten Art und Weise unterrichtet haben und sich nun umstellen müssen, sind ebenfalls Vorbehalte vorhanden. Da ist noch viel zu tun, um dafür zu werben, dass das gemeinsame Lernen eher eine Bereicherung als eine Einschränkung ist.

Wie verläuft der wissenschaftliche Diskurs?

Da ist die Lage etwas anders. Es gibt unterschiedliche Stränge: Es gibt einige Fachvertreter, die auch sehr stark programmatisch ausgerichtet sind und die Unterschiedlichkeit von Kindern und Jugendlichen gar nicht mehr mit Inklusion verbinden wollen. Wenn wir unterschiedliche Förderbedarfe untersuchen und diskutieren wollen, machen wir in deren Augen schon einen Fehler. Es geht ihrer Ansicht nach ganz allgemein um die Förderung von Vielfalt, die Anerkennung von Unterschiedlichkeit, Heterogenität – und das soll die Leitlinie für Praxisentwicklungen sein.

Dann gibt es eine andere Perspektive, zu der ich mich zähle, die den Standpunkt vertritt, dass nicht das Differenzieren und das Unterscheiden von Kindern in ihren Lebens- und Bildungssituationen das Schwierige ist, sondern das daraus möglicherweise resultierende abwertende Verhalten pädagogischer Fachkräfte. Bekommen wir das in den Griff, ist es meiner Ansicht nach nicht schwierig, sondern notwendig, Kinder in ihren unterschiedlichen Förderbedarfen wahrzunehmen, um ihnen exklusive Lebens- und Bildungsbedingungen erst zu eröffnen. Nur muss man dazu einen Rahmen schaffen, um Kinder und ihre Lebenssituationen nicht abzuwerten. Wir bewegen uns in dieser Spannweite zwischen einem sehr weitreichenden, fast gesellschaftstheoretischen Konzept und der Frage, wie man das Thema so herunterbrechen kann, sodass daraus ein greifbares Konzept für die Schulen und ihre Partner wie die Kinder- und Jugendhilfe wird.

Das setzt einen Mentalitätswandel voraus?

Auf jeden Fall. Was immer so schnell ausgesprochen wird, „Inklusion muss auch in den Köpfen stattfinden“, ist letztlich gar nicht so einfach umzusetzen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Haltungen anders geprägt, durch die Erfahrung, dass bei Schwierigkeiten junger Menschen im Lern- und Entwicklungsprozess im System andere Personen und Orte vorgesehen sind, die sich als Spezialisten darum kümmern werden. Dies verändert sich jetzt. Nun ist jeder Einzelne mit seiner Arbeit verantwortlich, natürlich in Zusammenarbeit mit Experten – aber letztendlich sind alle Lehr- und Fachkräfte, auch an den allgemeinen Schulen, aufgefordert, pädagogische Konzepte zu hinterfragen und zu ändern, was bislang eben so grundsätzlich nicht der Fall gewesen ist.

Bei den Eltern hingegen wird deutlich, dass sie sich vor allem die beste Bildung für ihre Kinder wünschen, weil sie schon weiter an Studium, Ausbildung und Beruf denken. Dass da keine Einstellung entsteht, dass Bildung schwieriger oder im Ergebnis schlechter wird, wenn Kinder unterschiedlicher Lernmöglichkeiten in der Klasse sitzen, sondern dass das sogar den Erfolg und die Entwicklung des eigenen Kindes in vielfacher Hinsicht bereichern kann, ist auch eine Zukunftsfrage „des Wandels in den Köpfen“.

Und letztlich sollte diese Erfahrung alle Beteiligten kritisch stimmen, denn es ist ein Hinweis darauf, dass wir Bildung und Wissen immer mehr voneinander entkoppeln: Persönlichkeitsentwicklung als Bildungsziel und Anliegen pädagogischer Arbeit scheint zur Kür erklärt zu werden, Pflicht ist im Zweifelsfalle die Vermittlung von im Beruf verwertbares Wissen, das man messen, bewerten, prognostizieren kann. Die Frage, welches Wissen und welche Bildung die Gesellschaft braucht, scheint gegenwärtig nur einseitig bedacht zu werden. Hier sollten wir dringend für ein ausgewogeneres Bild pädagogischer Arbeit und die Verständigung über Vorstellungen des guten Zusammenlebens, der Entwicklung junger Menschen und einer positiven Pädagogik in Schulen sowie allen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen werben.

Es gibt Kritik, dass Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat, sich aber niemand für die Finanzierung zuständig fühlt.

Das wird in der Tat sehr stark diskutiert, nicht nur das Finanzielle betreffend, sondern unter der Fragestellung, unter welchen Rahmenbedingungen Inklusion eigentlich gut möglich ist. Noch mehr, als es rund um den Ganztag diskutiert worden ist, muss man Raumkonzepte völlig neu überdenken, um nicht nur Barrierefreiheit, sondern eine neue pädagogische Qualität inklusiver Bildung als Merkmal von Schulentwicklung zu erreichen. Das ist das Eine.

Das Andere betrifft die Personalsituation: Zu den Lehrkräften kommen sozialpädagogische und andere Fachkräfte, die in der Schule mitarbeiten oder mit denen man die eigene Arbeit koordinieren muss. Auch das kostet natürlich Geld, und es sind Fort- und Weiterbildungen gerade für Lehrkräfte gefragt. Viele Schulen äußern, dass die große Idee Inklusion mit dem Umsetzungsprozess und den Möglichkeiten, die vor Ort gegeben sind, noch nicht zusammenpassen. Die Politik muss diese Bedenken ernst nehmen und aufgreifen. Ansonsten droht die Gefahr, dass die Betroffenen vor Ort irgendwann demotiviert werden. Das darf auf keinen Fall passieren, weil es sich nicht um ein Modethema handelt. Es wäre fatal, wenn man das nicht gut und sensibel umsetzen würde.

Sie sind an Ihrer Hochschule der Sprecher eines „Binnenforschungsschwerpunkts ‚Inklusive Bildung’“. Was verbirgt sich dahinter?

Die Hochschule hat vor zwei Jahren diesen Schwerpunkt gegründet und ausgeschrieben. Sechs Kolleginnen und Kollegen aus den Studienbereichen Soziale Arbeit, Pädagogik, Recht und Betriebswirtschaftslehre wollen gemeinsam die Fragen der Implementierung von Inklusion in den Blick nehmen: Wie kommt man von so einem großen Thema zu umsetzbaren Schritten? Wir werden für fünf Jahre mit Eigenmitteln der Hochschule finanziert.

Die Fächer der Kolleginnen und Kollegen stehen dabei für die in der Umsetzung relevanten Teilthemen. Es geht um Personal- und Organisationsentwicklung und um Geld – das ist BWL. Es geht um pädagogische Konzepte, also Erziehungswissenschaft. Es geht um die Einbindung sozialer Kompetenzen und das Wissen über Lebenslagen, das ist die Soziale Arbeit. Das Recht geht von der UN-Charta aus, aber auch das Sozialrecht kann Grenzen und Möglichkeiten von Inklusion definieren. Man kann rechtliche Rahmenbedingungen so weit annähern, dass Inklusion auch gut umgesetzt werden kann. Auch im Einzelfall kann Recht eine Rolle spielen, wenn Eltern etwas einklagen oder sich auf Rechte der Förderung, Begleitung und Hilfe beziehen – das ist die rechtliche Seite.

Die Studienbereiche sollen ein Netzwerk in der Forschung verkörpern, denn eine solche Inter-Professionalität erwarten wir letztlich ja auch von der Praxis. In der Forschung gibt es das häufig nicht: Da forschen zum Beispiel die Schulpädagogik oder die Sozialpädagogik für sich und nebeneinander.

Mit der konkreten Umsetzung befasst sich Ihr Forschungsvorhaben zu kommunalen Beteiligungsmodellen zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe.

Dies ist die erste mit Drittmitteln von der Volkswagen-Stiftung durchgeführte Teilstudie, die zum 1. März 2014 gestartet ist. Wir sind mit unserem Vorhaben auf große Resonanz gestoßen. Gerade die Fachverwaltungen wünschen sich Unterstützung, Begleitung und Beratung und wollen Teil einer wissenschaftlich gestützten Entwicklung sein.

In drei Kommunen, der Stadt und dem Landkreis Osnabrück sowie voraussichtlich der Stadt Hannover, werden wir Interviews mit den Fachverwaltungen, Planung, Politik, mit Eltern, Vereinen, Bürgerinitiativen durchführen, um die Gegenwärtigkeit des Themas in den Stadtteilen und Gemeinden zu ergründen. Dann wollen wir mit diesem Wissen Kommunalporträts erstellen: Wir analysieren, ob die Verwaltung aktiv Inklusionspolitik betreibt, ob die Inklusion einen Schwerpunkt der Bildungsplanung bildet, beispielsweise ein kommunales Schulkonzept für Inklusion vorliegt und die Jugendhilfe einbezogen ist. Entstehen Netzwerke? Wird das Thema in der Bauplanung sichtbar?

Das ist die eine Seite, die „Inklusive Kommune“ als Aufgabe von Fachverwaltungen und Kommunalpolitik. Die andere Seite, die „kommunale Inklusion“, wollen wir genauso ergründen, sprich die lebensweltlichen Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger in den Stadtteilen und Gemeinden. Beides gehört zusammen. Uns interessiert besonders auch der Unterschied der Herangehensweise zwischen Landkreis und Stadt. 2017 wollen wir dann im Anschluss alle Fachverwaltungen in Niedersachsen nach dem Stand der Inklusion in der Schul- und Jugendhilfeplanung befragen.

Welche Forschungsfragen finden Sie persönlich spannend?

Generell wird es interessant sein, das zu erforschen, von dem ich eingangs sprach: Die unwägbaren Faktoren wie Haltungen, die Einstellungen zur Inklusion und Fragen zur Selbstwirksamkeit. Sind die Fachkräfte oder sehen sie sich in der Lage, Inklusion gut umzusetzen? Damit hängt eine zweite spannende Frage zusammen: Kann ein Umsetzungskonzept verallgemeinert werden, sodass man es anderen Schulen empfehlen kann? Zu lernen, wie man solche großen Programme kleinschrittig umsetzt, ist ein wichtiges Forschungsziel.

In unserem kommunalen Teilprojekt besteht die Hauptfrage für mich darin, wie man gerade den Schulbereich, der Landessache ist, rechtlich so umgestaltet, dass auch die Kommunen in die Lage versetzt werden, aktiver Schulentwicklung zu betreiben. Verwaltungen können aus ihrer umsetzenden in eine gestaltende Rolle gelangen, wozu sich aber noch viel verändern muss. Ob die Kommunalverwaltungen darauf eingestellt sind, das sind für mich die Hauptfragen, mit denen das Programm Inklusion  vor Ort in den Städten, Gemeinden und Landkreisen steht und fällt.

Quelle: Zuerst erschienen in www.ganztagsschule.org von Ralf Augsburg am 19.03.2014

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